Täter-Theorie und Opfer-Theorie


23. 10. 2018 / 19. 10. 2018


Ich habe über das Thema Täter-Theorie und Opfer-Theorie schon öfters auf der Homepage geschrieben.


Es geht vorrangig um die Frage: Ist ein psychisch gestörter Mensch für seine Störungen verantwortlich? Genauer: Ist er für die Entstehung und/oder Aufrechterhaltung seiner psychischen Störungen verantwortlich?

 

Dabei gibt es vereinfacht gesagt zwei gegensätzliche Antworten, die von zwei gegensätzlichen Theorien vertreten werden. Ich habe diese Theorien Täter-Theorie und Opfer-Theorie genannt.

 

1) Täter-Theorie

Nach ihr ist der Mensch (vorrangig) „Täter“ seiner psychischen Störungen, er erzeugt sie selbst und hält sie selbst aufrecht. Somit trägt er auch allein die Verantwortung dafür.

 

2) Opfer-Theorie

Nach ihr ist der Mensch (vorrangig) „Opfer“ seiner psychischen Störungen, sie sind ihm von seinen Genen oder von außen, von seinen Eltern, der Gesellschaft oder auch von einem Therapeuten, allgemein der Umwelt aufgezwungen worden. Er ist somit nicht oder nur wenig für die Entstehung oder Aufrechterhaltung seiner psychischen Störungen verantwortlich.

 

Entsprechend kann man in der Psychotherapie (wie ich sie genannt habe) eine Täter-Therapie und einer Opfer-Therapie unterschieden. In der Täter-Therapie konfrontiert man den Patienten, destabilisiert ihn, setzt ihn unter Druck, seine Störungen aufzugeben. In der Opfer-Therapie begegnet man dem Patienten mit Freundlichkeit, Unterstützung, Verständnis, um seine Traumata zu heilen und ihm den Raum für eine Gesundwerdung zu geben.

 

Diese Unterscheidung ist von großer Wichtigkeit in der Theorie und Praxis der Psychotherapie. Als ich seinerzeit meine ersten Arbeiten zu diesem Thema schrieb, gab es wenig Literatur zu dem Thema. Und nirgends wurde das Thema begrifflich und theoretisch so klar gefasst wie in meinen Arbeiten. Später erschienen mehr Untersuchungen zu dem Thema insbesondere von Alice Miller. Aber ich kann sagen, dass meine Schriften von damals auch heute noch aktuell und keineswegs überholt sind.

 

Allerdings kann man das Thema Täter-Opfer (unabhängig von der Kriminologie) auch noch weiter fassen, viel weiter:

Es geht generell um die Frage: Wenn man an Krankheiten oder psychischen Problemen leidet, wenn man keinen Erfolg hat oder generell sich schlecht fühlt, ist man dann Oper dieses Unglücks? Oder ist man Täter, d. h. schafft man sich sein  Unglück selbst?

 

Noch allgemeiner: Gestalten wir unser Leben selbst? Ist jeder allein für sich selbst verantwortlich? Das sagt die Täter-Theorie.

Oder entscheiden das Schicksal, die Gesellschaft oder auch die Gene über uns? Über Glück und Unglück? Das ist die Auffassung der Opfer-Theorie.

 

Ich fasse hier verschiedene Texte von mir über dieses Thema zusammen und kommentiere es neu. Teil sind es Texte, die hier direkt zu lesen sind, andere Texte werden als PDF-Dateien eingestellt.

 


Im Einzelnen sind das folgende Texte:

 

1) Täter-Theorie und Opfer-Theorie, speziell auf das Thema Ärger bezogen.

(unten zu lesen)

 

2) Analyse von Büchern über die Psychosomatische Klinik Bad Herrenalb, die früher einer der bekanntesten Vertreter einer täter-orientierten Psychotherapie war. (unten zu lesen)

 

3) Schreitherapie nach Casriel (PDF)

Die Schreitherapie nach Dan Casriel, auch New-Identity-Process genannt, ist eine deutlich täter-theoretische Psychotherapie, sie war der Haupttherapieansatz in der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb.

 

 


 

4) Verantwortung in der Psychotherapie (PDF)

Eine ausführliche theoretische und praktische Analyse der Täter-Therapie versus Opfer-Therapie.

 

 


 

5) Täter-Opfer-Therapie (PDF)

Eine gründliche Studie, die etwas populärer geschrieben ist als der Text „Verantwortung in der Psychotherapie“.

 

 



6) Kommunikationstherapie nach Watzlawick (PDF)

Die Kommunikationstherapie nach Paul Watzlawick ist eine weitgehnd täter-orientierte Therapie, in der es vielfach darum geht, den Klientenbzw. Patienten "auszutricksen".





7) Machen wir uns selbst unglücklich? (PDF)

Meine ausführlichste Abhandlung zu diesem Thema, nämlich als Buch, konzipiert als Replik auf Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“, einer der Bibeln der Täter-Theorie.

 

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Täter- und Opfer-Theorie, speziell auf das Thema Ärger bezogen

 

ICH ärgere mich über den Regen.  –  DER REGEN ärgert mich.

Merken Sie den Unterschied zwischen diesen beiden Aussagen? Auf den er­sten Blick scheinen sie zwar dasselbe auszudrücken.

-          Aber im ersten Fall bin ich der Handelnde, gewissermaßen der "Täter".

-          Im zweiten Fall handelt etwas anderes, der Regen. Ich bin das "Opfer".

Einmal bin ich aktiv, das andere Mal passiv - wie das auch sehr schön die gleichnamigen grammatischen Kategorien be­zeichnen.

 

Anstelle des Regens kann man natürlich alles Mögliche einsetzen: Das defekte Auto ärgert mich, die fallenden Aktienkurse ärgern mich, der unfreundliche Nachbar ärgert mich, du ärgerst mich, sogar die ganze Welt ärgert mich. - Und: mein Ärger ärgert mich.


   Was stimmt denn nun? Mache ich meine Wut gewisserma­ßen selbst? Oder wird sie von einer anderen Person oder über­haupt etwas anderem hervorgebracht? Sicherlich, die Wut entsteht in mir, insofern bin ich ihr "Vater". Aber dies wäre als Gesamtantwort doch zu simpel. Entscheidend bleibt: Wird man zornig aus Gründen, die in einem selbst liegen, oder auf­grund äußerer Ursachen? Noch einmal anders: Wir hatten ge­sehen, dass man wütend wird, wenn bestimmte Bedürfnisse und Erwartungen nicht erfüllt werden, weil sie eben mit der Realität nicht übereinstimmen.

   Was ist aber falsch? Mein Wunsch - oder die Welt?

 

Es gibt hier zwei verschiedene Auffassungen. Ich benenne sie wie folgt:

  • Täter-Theorie
  • Opfer-Theorie.

 

Nach der Täter-Theorie bewirke ich selbst meinen Zorn, nach der Opfer­-Theorie tut das vor allem die Umwelt. Diese beiden Theorien gehen allerdings weit über das Phänomen Zorn hinaus. Nach der Täter-Theorie liegt es insgesamt an mir, ob ich zufrieden oder unzufrieden, ja sogar ob ich körperlich gesund oder krank bin. Nach der Opfer-Theorie liegt es vor allem an der Umwelt, ob ich glücklich oder unglücklich, bei guter Gesundheit oder kränkelnd bin. Zunächst zur Täter-Theorie:

 

· TÄTER-THEORIE

Für die gilt: Jeder ist seines Ärgers Schmied, so wie jeder seines Glückes Schmied ist.

Ich bin der „Täter“.  Es liegt an mir selbst, an meinem Ich, wenn ich mich ärgere, grolle und schmolle. Es ist meine Verantwortung - in doppelter Hinsicht:

-          Ich habe Fehler gemacht, durch negatives Denken oder negatives Handeln die Ärgernisse verursacht, über die ich mich zu Recht är­gere. Z. B. durch Unvorsichtigkeit, Nachlässigkeit, Bequem­lichkeit. Durch unfreundliches, arrogantes, provozierendes Verhalten. Oder durch Pflege von Pessimismus und Negativismus, die dann zu Misserfolgen führten. Die Fehlermöglichkeiten sind unbegrenzt ...

-          Ich habe zu anspruchsvolle Wünsche, Riesenerwartungen, die gar nicht erfüllt werden können. Ich will alles, und das sofort - aber Wunder dauern etwas länger. Oder ich interpretiere ein ganz harmloses Geschehen als großes Ärgernis: Die Mücke an der Wand wird für mich zum Elefanten. Hier mein Zorn unberechtigt, es besteht gar kein echtes Ärgernis. Aber nach Auffassung der Ich-Theorie suchen viele Menschen (und sei es unterbewusst) gerade Ärger, wollen sich aufregen.

 

Nach der Täter-Theorie gilt also: Ich ärgere mich (selbst). Und damit letztlich auch: Ich ärgere mich über mich (selbst), als den eigentlichen - direkten oder indirekten - Verursacher meiner Wut. Was mir allerdings nicht bewusst sein muss.

 

· OPFER-THEORIE

Die zweite Auffassung sagt das Umgekehrte: Wenn einer zornig ist, dann hat ihn etwas anderes - Fremdes -  erzürnt. Er ist „Opfer“ der Umstände, die ihn zornig machten bzw. Opfer seines Zorns, wieder in doppelter Sicht:

-          Es ist die Umwelt, das schlechte Wetter, das kaputte Fernsehen, der unfreundliche Chef usw. usw., die jemand ärgerlich stimmen. Er reagiert nur notgedrungen auf eine Störung, eine Provokation oder einen Stress. Zwar hat er vielleicht auch selbst Fehler gemacht, aber unter dem Einfluss seiner negativen Kindheit oder ungünstiger Erbanlagen. Es ist nicht seine Verantwortung.

-          Seine Wünsche sowie sein Ärger über deren Nichterfüllung sind berechtigt und nicht maßlos. Die Welt oder die Gesellschaft oder bestimmte Verhältnisse sind eben oft frustrierend.

Hat nun die Täter-Theorie oder die Opfer-Theorie recht?

Die erste Antwort ist: beide - oder beide nicht.

 

Wut wird erstens sowohl von unserem Ich wie von Umwelt-Faktoren beeinflusst. Es ist unsinnig, den Einfluss der Umwelt ganz zu leugnen. Natürlich gibt es ärgerliche Ereignisse, für die wir nichts können,  die nicht auf unseren Fehlern beruhen. Wenn wir drei Wochen in Urlaub fahren und es regnet die ganzen drei Wochen, dann ist das einfach „verdammt“ ärgerlich.  Es gibt zwar Vertreter einer extremen, esoterischen Täter-Theorie die behaupten: „Alles, was man erlebt, hat man selbst verursacht. Jeder schafft sich seine Welt selbst.“ Aber das ist schon logisch unmöglich,  hier liegt ein irrationales, letztlich magisches Denken vor. Außerdem besteht dabei die Gefahr, dass Menschen für ihre Probleme oder Krankheiten noch moralisch verurteilt und als schuldig dargestellt werden. Ähnliche Vorstellungen gibt oder gab es in traditionellen Religionen, in denen man Krankheiten als Strafe Gottes ansah.


  Andererseits bringt es auch nichts, alle eigenen Probleme und allen Ärger auf die Umwelt zu schieben. Wenn man zu schnell fährt, geblitzt wird und sich darüber ärgert, nützt es wenig, die Polizei für den Ärger verantwortlich zu machen. Überhaupt hat das Ich ja einen gewissen Einfluss auf die Umwelt. Wenn ich mich ständig über meinen unfreundlichen Chef ärgere, kann ich  notfalls den Job wechseln (obwohl das natürlich nicht immer einfach ist).


   Damit kommen wir zum zweiten Punkt, der Freiheit des Ich. Auch wenn man einräumt, dass unser Ich selbst Ärgernisse mitverursacht, durch Fehler oder zu hohe Erwartungen: Ist unser Ich nicht bestimmt durch die genetische Anlage, körperliche Prozesse und unsere früheren Erfahrungen, vor allem Kindheitserfahrungen? Kann das Ich also überhaupt etwas für sein Fehlverhalten?


   Die Täter-Theorie lehnt diesen Gesichtspunkt ab. Sie sagt, unser Ich ist frei, sich zu entscheiden, wie es will, und sei daher auch total selbst verantwortlich. Esoterische Anhänger der Lehre von der Wiedergeburt (Reinkarnation) behaupten sogar: Jemand hat sich seine Eltern selbst ausgesucht bzw. durch seine Taten in früheren Leben (Karma) herangezogen. Er soll daher auch für schlimme Kindheitserfahrungen die Verantwortung tragen.


   Dagegen sagt die Opfer-Theorie: Unser Ich wird von verschiedenen Faktoren geprägt. Wer z. B. eine schreckliche Kindheit erlebt hat, wer von seinen Eltern unterdrückt wurde, der ärgert sich automatisch, er kann nicht anders. Schon gar nicht ist jemand für seine Gene verantwortlich.


   Hier ist auch der Faktor Schicksal zu nennen. Für die Täter-Theorie gibt es kein Schicksal und keinen Zufall. „Glück“ hat nur der Tüchtige. Aber kann es nicht ein schweres Schicksal geben, das einem Menschen einen Schicksalsschlag nach dem anderen zumutet? Schon die griechische Tragödie beschäftigt sich mit dem  Schicksal, etwa dem Sisyphos, der verdammt war, einen schweren Stein auf einen Berg zu rollen, von wo er immer wieder herunterrollte. Auch im Buch Hiob des alten Testamentes wird dieses Thema aufgegriffen, Hiob wird von den „Hiobsbotschaften“ (Unglücksbotschaften) heimgesucht. Und in harmloser Weise mag jemand ein Pechvogel sein, ein Unglücksrabe, dem immer wieder Ärgerliches  zustößt. Umgekehrt lehrt das Sprichwort: Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln. Soll heißen, wenn jemand ein Glückspilz ist, dann beweist das keinesfalls besondere Fähigkeiten.

 

Auch bezüglich der Freiheit des Ich sind die extreme Täter- wie Opfer-Theorie falsch.

   Selbstverständlich ist unser Ich nicht völlig frei in seinen Wünschen und Entscheidungen und Handlungen. Es bedeutet eine narzisstische Selbstüberschätzung, geradezu einen Größenwahn, das anzunehmen.


   Andererseits ist es auch falsch, unser Ich nur als ein Produkt aus Anlage und Umwelt zu sehen und jegliche Willens- bzw. Handlungsfreiheit zu verneinen. Sondern wir sollten uns schon einen Handlungsfreiraum und damit auch eine gewisse Verantwortlichkeit zusprechen. (Das gilt allerdings nicht für kleine Kinder oder für geistig schwer erkrankte Menschen.)


   Insofern ist eine Ganzheits-­Theorie angemessen, die beide Seiten berücksichtigt.

-          Wut ist sowohl von der Umwelt als auch von unserem Ich bestimmt.

-          Und unser Ich ist einerseits für seine Handlungen und Entscheidungen verantwortlich, andererseits wird unser Ich von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die es größtenteils nicht steuern kann.        

         

Diese Abhängigkeiten sind auch bei der Praxis zu berücksichtigen. Die Täter-Theorie wirft der Opfer-Theorie vor, sie verführe zur Passivität, da Menschen sich als Opfer sehen und nichts gegen Ärger unternehmen würden. Aber das ist nicht zwangsläufig. Auch wenn man sich als Opfer von Ärgernissen sieht, kann man doch versuchen, diese Ärgernisse soweit möglich auszuräumen.

   Umgekehrt kann die Täter-Theorie zu einem überzogenen Aktivismus führen, als ob man allen Ärger selbst überwinden könnte.

   Im Folgenden sollen die verschiedenen Ursachen genauer erläutert werden. Auf die Ich-Ursachen, wie sie die Täter-Theorie herausstellt, wird hier nur kurz eingegangen, weil sie im Praxis-Teil noch im Einzelnen diskutiert werden.

 

ICH-URSACHEN FÜR ÄRGER

 

  • Gefühle

-  Festhalten an alten Gefühlsmustern / z. B. wie ein Wut-Automat

-  Sich reinsteigern in die Wut  / z. B. bei jeder Kleinigkeit aufregen

-  Positive Gefühle wegdrängen / z. B. seine Freude nicht ernst nehmen

 

  • Bedürfnisse

-  Maßlose, perfektionistische Wünsche, die scheitern müssen /

   z. B. immer Erfolg  zu haben

 -  Widersprüchliche Wünsche, die nicht beide erfüllbar sind /

     z. B. Karriere + Faulheit

 -  Destruktive Wünsche, die neuen Ärger bringen / z. B. Rachewünsche

 

  • Einstellungen      / Gedanken

-  Negativismus: immer Ärger erwarten / z. B. allen misstrauen

-  Übertreibung / z. B. aus einer Mücke einen Elefanten machen

-  Selektive Wahrnehmung / z. B. nur das Ärgerliche sehen

 

  • Verhalten

-  Provokation / z. B. sich über andere lustig machen

-  Selbstbeschädigung / z. B. sich vor anderen schlecht machen

-  Misserfolg suchen / z. B. die eigene Arbeit sabotieren

 

  • Körper          

-  Den Körper stressen / z. B. durch Nikotin, Alkohol, Drogen

-  Den Körper überfordern / z. B. durch Hochleistungssport

-  Den Körper unterfordern / z. B. durch Bewegungsmangel

 

 

Die anderen Ursachen für Ärger werden in anderen Texten  besprochen.



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Therapie in der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb

 

Der Text ist im Präsens geschrieben, denn er beschreibt die Klinik

zum Zeitpunkt der Niederschrift, in den 70er Jahren.

Heute gibt es die Klinik nicht mehr. Der damalige Klinikleiter Walther Lechler

war bis 1988 dort Chefarzt, er ist 2013 verstorben.

Zwar gibt es eine noch eine psychosomatische Klinik in Bad Herrenalb,

die Celenus Klinik, aber sie hat nur wenig mit der ursprünglichen Klinik zu tun.

Dennoch hat das Herrenalber Modell der alten Klinik weiterhin Einfluss auf

psychosomatische Kliniken, und es lohnt daher auch heute noch,

diese Beschreibung der ursprünglichen psychosomatischen Klinik

zu veröffentlichen bzw. zu lesen, gerade zur Demonstration einer

täter-theoretischen Psychotherapie.

 

Die Klinik in Bad Herrenalb ist recht bekannt, sogar über Deutsch-
land hinaus. Es ist keine Klinik im eigentlichen Sinn, eher ein
Therapiezentrum bzw. eine therapeutische Gemeinschaft. Leiter der
Klinik ist der Arzt Dr. Walter LECHLER.

Schwerpunkt der Therapie ist die Behandlung von Süchtigen, besonders
von Alkoholikern.


Die Herrenalber Therapie basiert vor allem auf der Schreitherapie
nach Dan CASRIEL (die ich aber gesondert behandeln will). Die zweite
entscheidende Therapiekomponente ist das Zusammenleben in einer
therapeutischen Gemeinschaft – hier ergeben sich Parallelen zu
therapeutischen Gemeinschaften in der Drogentherapie wie Synanon.

Obwohl in Herrenalb viel Wert auf positive Zuwendung gelegt wird,
ist die Therapie doch überwiegend Täter-orientiert. Die Patienten
werden hart konfrontiert, regelrecht in Krisen hereingetrieben,
weil man meint, nur wer ganz am Boden sei, habe auch die Bereit-
schaft, sich zu ändern. Im Gegensatz zu den meisten anderen Täter-
Therapien übernehmen hier die Mitpatienten ("Gäste" genannt) star-
ke Täter-therapeutische Funktionen.


Ich beginne mit Auszügen aus dem Buch "Umarmen möchte ich dich" von
Luise HABEL. Frau HABEL veröffentlicht in ihrem Buch Briefe an
einen sogenannten Johannes (gemeint ist LECHLER), in denen sie sich
mit ihrer Therapie in der Klink auseinandersetzt.


Ich will betonen, dass Luise HABEL ihre Therapie überwiegend positiv
einschätzt und als Erfolg ansieht. Es fragt sich allerdings, in-
wieweit dieser "Erfolg" nicht durch starke Verdrängungen erkauft
ist und ob er überdies nicht mehr auf der emotionalen Bindung der
(ehemaligen) Patientin zu ihrem Therapeuten beruht als auf der
Therapie im eigentlichen. Jedenfalls macht Luise HABEL in ihren
Briefen viele Aussagen zur Herrenalber Therapie, deren Kritik

- manchmal vielleicht ganz ungewollt und jedenfalls schnell, ge-
wissermaßen entschuldigend, wieder mit einer positiven Schilderung
bemäntelt - sehr entlarvend wirkt. Für das Verständnis mancher der
folgenden Zitate ist es erforderlich zu wissen, dass die Autorin
behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen ist.


Ich möchte zunächst einige Zitate bringen, die zeigen, wie die
Mitpatienten in der Klinik unter dem Einfluss der dort ausgeübten
Täter-Therapie sich selbst Täter-therapeutisch verhalten.

Dies bedeutet im konkreten Fall vor allem, dass sie die Autorin
für ihre Behinderung zumindest unterschwellig verantwortlich
machen und nicht bereit sind, ihr zu helfen.


"Ein tägliches Ärgernis war, dass ich mir mein Essen nicht selbst
holen konnte, und dass es kaum einen Tag gab, an dem nicht irgend-
ein Gast mir sagte, er hätte keine Lust, mir mein Tablett mitzu-
bringen. Das tat mir weh, aber ich sagte krampfhaft lächelnd,

'ok' und fragte den nächsten. Weitere Ablehnungsgründe waren, ich
bettle zu sehr ader ich würde zu sehr fordern, ich müsste mehr
bitten. Ich konnte es formulieren, wie ich wollte, irgendetwas war
immer verkehrt." (39)


Einmal spricht die Patientin in der Vollversammlung darüber, wie
sehr sie dieses Verhalten enttäuscht.


"Was musste ich mir da alles anhören: Ich sei nur zu faul - ich
könnte mehr als ich wüsste - ich hätte zu viel Mitleid mit mir und
was dergleichen Blödsinn war. (34)

Mancher Gast wollte mit Behinderung nichts zu tun haben. Mein An-
blick machte ihm ungute Gefühle, die er abreagieren musste, und so
bezog ich manches Mal Prügel, wo ich sie gar nicht verdient hatte.
Eine Frau beantragte, dass ich nach Hause fahren sollte, wenn ich
nicht so schnell wie die Nichtbehinderten sein könnte. Eine Mutter
beklagte sich, weil ich ihre vierjährige Tochter in den Arm ge-
nommen hatte. Die Kleine hatte sich sehr wohl bei mir gefühlt, aber
die Mutter ertrug das nicht." (91)


Zuweilen musste sie sich unglaubliche Diskriminierungen gefallen
lassen:


In einer emotionalen Gruppe schrie mich ein junger Mann an:

'Dich würde ich am liebsten mitsamt deinem Rollstuhl auf die Müll-
halde kippen. Schau, dass du verschwindest. Du hast hier nichts zu
suchen.' (53)


Als die Patientin sich dagegen zur Wehr setzt, fordert dies den
Unwillen der ganzen Gruppe heraus.

Über die sogenannten Komiteesitzungen der Patienten schreibt sie:


"Zu meiner Zeit habe ich Komiteesitzungen oftmals wie einen Volks-
gerichtshof empfunden, an dem man verurteilt wurde, ohne sich
rechtfertigen zu dürfen." (52)


Und wenig später bestätigt sie noch einmal:


"Zu meiner Zeit hatten sich einige Gäste sehr zu Richtern ent-
wickelt, die das Therapiechinesisch so perfekt beherrschten, dass
Angst und Schrecken vor den Komiteesitzungen sich breitmachten"

(52)


Aber nicht nur von den Mitpatienten sondern auch von den Therapeu-
ten hatte die Patientin ähnliche Konfrontationen zu ertragen, die
auch oftmals am Problem ihrer Behinderung entstanden. Die Patien-
tin berichtet dann aus einer Gruppensitzung:


"Es fing alles ganz harmlos an. Wir saßen im Kreis auf Matten

und Gottfried, unser Therapeut, schlug vor, ich solle einmal
eine Woche von meinem Rollstuhl "fasten". Er meinte, es könne
hilfreich für mich sein, mich in den nächsten Tagen überall
hintragen zu lassen: drei Stockwerke hinauf und hinunter, zum
Essen, zur Toilette, in die Gruppen - kurz überallhin. Ich fand,
das sei keine gute Idee. Ich wusste um die Gefahren für Hüfte und
Wirbelsäule, die allzu leicht bei nicht fachmännischem Tragen
gezerrt werden konnten. Von den unvermeidlichen Hüftschmerzen

einmal ganz abgesehen. Außerdem sah ich keinen Sinn darin     .

Die Gruppe war mit meiner Ablehnung unzufrieden. Sie fand, es
könnte eine tolle therapeutische Maßnahme für mich werden. An
die praktischen Auswirkungen, dass Tag und Nacht zwei starke
Männer mir zur Verfügung stehen müssten, dachte sie dabei aller-
dings nicht." (95)


Der Therapeut verfällt daraufhin auf die kindische Idee, den
Rollstuhl zu verstecken. Es kommt zu einer heftigen Auseinander-
setzung, an der die ganze Gruppe beteiligt ist. Die Patientin
schreibt:


"Schade fand ich, dass unser Verhältnis von da ab gestört war. Ich
persönlich hatte unter diese Erfahrung einen Schlussstrich gezogen.
Ich trug Gottfried nichts nach, und ich versuchte, ihm wieder zu
signalisieren, es sei von mir aus alles in Ordnung. Aber Gottfried
wich mir aus und zeigte deutlich, dass er keine Kontakte mehr zu
mir wolle." (97)


Erst nach Wochen ist der Therapeut wieder bereit, der Patientin
offen zu begegnen.

Luise HABEL berichtet dann von einer weiteren Auseinandersetzung
mit Therapeuten. Es beginnt damit, dass sie vor das Therapeutenteam
vorgeladen wird. Bezeichnend ist schon, wie sie diese Begebenheit
beschreibt:


"Dorthin zu müssen machte den meisten Gästen große Angst. Auch mir
ging es nicht anders. Als ich mit Herzklopfen in den kleinen über-
füllten Raum der Bibliothek kam, nahm ich als erstes wahr, dass
Du/gemeint ist der Therapeut LECHLER/ nicht da warst. Das löste
zusätzliche Ängste bei mir aus. Von Dir wusste ich, dass Du mir
nichts Böses wolltest, bei den anderen Therapeuten und Praktikan-
ten war ich dessen nicht so sicher." (97)


Die Autorin berichtet weiter:

"Es ging darum, dass ich auf ein Marathon mitsollte (ein Marathon

ist eine mehrtägige Intensivtherapie, in einer „Hütte“. Ich hatte mir

am Tag zuvor die Hütte angesehen und gefunden, dass die äußeren
Bedingungen für mich unzumutbar waren. Ich konnte weder auf eine
Toilette, noch konnte ich die Waschgelegenheiten benutzen. Auch
würde ich in dem engen Raum bei der Größe der Gruppe total unbe-
weglich sein. Ich hätte Tag und Nacht - ca. 60 Stunden - auf einer
Matte liegen müssen und wäre in der Rolle eines Säuglings gewesen,
der total hatte versorgt werden müssen. Dazu war ich nicht be-
reit. Ich sah darin keinen therapeutischen Nutzen. Alle im Team
waren der Meinung, dass ich teilnehmen müsste. Sie redeten viel und
gescheit und ich durfte nichts erwidern. Ich merkte, dass kaum einer

sich Gedanken machte über meine tatsächliche Situation. Ihre Ar-
gumente kamen ihnen leicht von den Lippen. Sie kosteten sie nichts."
 

Darüber kommt es auch noch zu einer Auseinandersetzung mit dem
Chefarzt Walter LECHLER. Luise HABEL schreibt in einem Brief an
ihn:


"In der Vollversammlung am nächsten Tag warst Du mit meiner Absage,
am Marathon teilzunehmen, nicht einverstanden. Du wolltest eine Be-
gründung. Die lieferte ich Dir kühl, sachlich. Ich sprach nicht da-
von, dass ich Gäste gefragt hatte, ob sie eine Bettpfanne leeren
würden und dass sie das verneint hatten. Ich wehrte mich nicht gegen
das verlogene Getue der Gruppe, ich hätte neue Erfahrungen machen
können. Dich machte das unheimlich wütend und Du schriest mich vor
hundert Leuten an, so laut und unbeherrscht, wie ich Dich noch nie
erlebt hatte." (98)


Immer wieder zeigt es sich, dass die Patientin nicht nur ohne Ver-
ständnis behandelt wird, man sie aggressiv konfrontiert, sondern
sie regelrecht in eine Zwickmühle treibt. Einmal wehrt sie sich in
einer Gruppe:


"Wenn ich bitte, heißt es, ich bettle. Sage ich bestimmter, was ich
brauche, dann heißt es, ich 'übe Macht aus'. Ich bin sehr einsam
in diesem Moment und registriere, dass ich eben doch Prügel beziehe,
wenn ich unkontrolliert reagiere." (47)


Was immer die Patientin in dieser Situation tut, sie wird angegriffen.
Hält sie ihre Gefühle zurück, so sagt man ihr, sie solle loslassen,
und reagiert die unbeherrscht, so stößt dies auch auf Kritik.


Es müssen hier nun zwei Dinge unterschieden werden. Zum einen ge-
hört es zum Konzept der Herrenalber Therapie, den Patienten in eine
Krise zu treiben, ist eine bewusste Therapietaktik. Zum anderen hat
man allerdings bei den meisten hier - durchaus glaubhaft - geschil-
derten Therapieszenen den Eindruck, dass die Therapeuten viel mehr
emotional ausagieren als sich therapietaktisch verhalten. Für die
geschilderten Szenen mit den Mitpatienten gilt dies ohnehin. In man-
chen Situationen verhalten sich die Therapeuten aber auch einfach
gedankenlos. Als die Patientin z.B. den Therapeuten Gottfried nach
der geschilderten Rollstuhlepisode fragt, was er eigentlich be-
zweckt hätte, antwortet dieser, er hätte sich gar nichts dabei ge-
dacht. Sehr subtil zeigt die Patientin auf, wie unbedarft manche
Therapeuten sich hier verhalten, jenseits aller fachlichen Kompetenz.
Stattdessen gibt es dann ein paar Psychosprüche, ein unverbindliches
Psychoblabla, als Begründung.


Trotz all der negativen Erfahrung, dies sei noch einmal betont,

hält Luise HABEL daran fest, dass sie sehr profitiert habe von der
Therapie. Aber sie berichtet auch immer wieder von neuen Depressionen,

die sie überfallen, so dass sich fragt, ob die gewisse Zufriedenheit
nicht durch ständige Verdrängung gewonnen werden muss, ob sie nicht
an jedem Tag neu erkämpft werden muss.


Auch ist offensichtlich, dass Frau HABEL Ängste hat, sich zu kri-
tisch über die Therapie zu äußern; sie befürchtet Ablehnung des
Therapeuten Walter, an dem ihr sehr viel liegt.

"Johannes, ich hoffe, diese Ausführungen ärgern Dich nicht." (105)
So beendet sie einen kritischen Beitrag, und derartige Äußerungen
finden sich immer wieder.


Manches klingt auch einfach wie eine Rationalisierung. So schreibt
sie z.B.:

„Mir haben die Auseinandersetzungen mit Werner nicht geschadet. Im
Gegenteil. Er hat mich davor bewahrt, Therapeuten hörig zu werden.
Er war für mich das Korrektiv, das ich brauchte, um nicht blind zu
vertrauen. An ihm habe ich außerdem gemerkt, wie stark ich war und
wie viel Kräfte und Fähigkeiten mir zur Verfügung standen.“ (105)


Bemäntelt die Patientin hier nicht vielleicht nur die Enttäuschung,
von diesem Therapeuten so rücksichtslos behandelt zu werden? Ver-
sucht sie nicht nur, krampfhaft dieser Erfahrung etwas Positives ab-
zugewinnen?


Wie die Patientin an verschiedenen Stellen berichtet, war sie ge-
wohnt, sehr hart mit sich umzugehen, musste dies zum Teil auch ein-
fach wegen ihrer Behinderung. Man mag fragen, ob ihr nicht gerade
deswegen diese Therapie in Herrenalb entgegenkam. Eine Therapie,

in der zwar sicherlich auch viele positive, bestätigende Erlebnisse
stattfanden, bei der sie aber letztlich rigoros als Täterin ihrer
Symptome verurteilt wurde. War sie nicht ohnehin gewohnt, die Schuld
immer bei sich selbst zu suchen und bestätigte sie die Therapie
letztlich nicht in dieser Haltung?


Manchmal hat man den Eindruck, als ob sie jetzt selbst auch anderen
gegenüber mehr ein Täter-therapeutisches Verhalten übernommen hat.
Sie berichtet über Auseinandersetzungen mit einer Bekannten:

Sie wurde zunehmend aggressiver gegen mich. Ich war nicht mehr die
einfühlsame, alles verstehende Zuhörerin von früher. Ich weigerte
mich, ihr ständig Mitleid entgegenzubringen und sie in ihrem "gemüt-
lichen Elend" weiterhin zu unterstützen. Ich sagte ihr, dass ich
nicht verantwortlich sei für ihr seelisches wohlergehen. Als er-
wachsener Mensch trage sie selbst die Verantwortung. Sie wolle
nichts verändern, sie fühle sich wohl in ihrer Misere. Dass ich sie
darin nicht mehr bestätigte, machte sie wütend. Sie griff mich an.
Sie meinte, die Therapie hätte sich sehr negativ auf mich ausge-
wirkt. Denn was wäre das für eine Therapie, die das Einfühlungsver-
mögen zerstöre? (66)


Es mag ja sein, dass Frau HABEL Recht damit hat, dass ihre Bekannte

in gewisser Weise an ihrer Unglücklichkeit festhält. Aber die Art

und Weise, wie sie dies schildert, erinnert eben doch sehr an den
Herrenalber Ton, an die Art und Weise, wie man mit ihr selbst um-
gegangen ist. Generell ist es vielleicht problematisch, einen Selbst-
erfahrungsbericht in dieser Weise auszuwerten. Natürlich ist es auch
möglich, dass manches in der Schilderung der Autorin subjektiv ver-
zerrt ist. Insgesamt erscheint diese Beschreibung aber als äußerst
präzise und objektiv, und gerade weil die Autorin das Positive der
Therapie herausheben möchte, wiegen ihre negativen Schilderungen

umso schwerer.


Um das Therapiekonzept der Psychosomatischen Klinik in Bad Herrenalb
etwas genauer darzulegen, werde ich jetzt aus einigen Aufsätzen von
Konrad STAUSS, einem früheren Mitarbeiter der Klinik, zitieren.


"Zum anderen darf die Psychosomatische Klinik kein Schonklima zur
Verfügung stellen, sondern muss eine möglichst lebensnahe Atmosphäre
schaffen, die den Patienten keine Möglichkeit gibt, den anstehenden
Problemen auszuweichen. Eine Fluchtmöglichkeit in die Krankheit oder
ein allgemeiner sozialer Rückzug darf nicht stattfinden. Hilfe im
üblichen Sinne bei einem psychosomatischen Leidenszustand darf nicht
erwartet werden, da diese sogenannte Hilfe die Krankheit eher ver-
stärkt und der Patient einen sekundären Krankheitsgewinn erfährt,
sondern er wird mit seinen Symptomen konfrontiert und in der Gruppe
angehalten, eine neue soziale Lösung im Umgang mit seiner Krankheit
zu finden." (Jetzt, Nr. 21977,4)


In einem anderen Aufsatz beschreibt STAUSS den Unterschied bei der
Behandlung neurotischer und psychosomatischer Störungen. Zu den neu-
rotischen Störungen sagt er:


"In der sogenannten Symptomebene wird die Symptomaufgabe gefordert.
'Höre auf, Drogen und Alkohol zu nehmen, gib dein kriminelles Ver-
halten, dein Vermeidungsverhalten, das destruktive Ausagieren gegen
dich und andere auf, höre auf, davonzulaufen, versuche nicht mehr,
die Verantwortung abzuschieben, übernimm ab sofort die volle Ver-
antwortung für dein Verhalten'." (Aus: PETZOLD 1977, 389)


Zu den psychosomatischen Störungen schreibt STAUSS:


"Bei der Behandlung dieser Störungen verlangen wir statt der Symptom-
aufgabe, die in diesem Fall schlecht möglich ist, dass auf das Symptom
keine Rücksicht genommen wird, damit die Verstärkung durch den so-
genannten sekundären Krankheitsgewinn wegfällt und dass verunmöglicht
wird, die Krankheit als Manipulationsmöglichkeit gegenüber der Umwelt
einzusetzen." (Aus: PETZOLD 1977, 395)


Es ist an dieser Stelle nicht möglich, das gesamte Behandlungspro-
gramm der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb genauer zu be-
schreiben. Ich muss mich auf die für unser Thema besonders inter-
essanten Punkte beschränken. Insgesamt beschreibt STAUSS die Therapie-
methodik in einer Weise, als ob diese ganz unproblematisch zu einem

Erfolg führen würde und gibt entsprechende Falldarstellungen.


Sehr viel realistischer erscheint mir da aber der zuvor geschil-
derte Bericht von Luise HABEL. Er machte auch deutlich, dass in
einer exzessiven Ausdehnung des Psychosomatik-Konzeptes sogar eine
Behinderung wie eine psychosomatische Krankheit behandelt wird,
auf die dann - genau wie bei STAUSS nachzulesen - keine Rücksicht
genommen wird.


Nur an wenigen Stellen ist hinter der glatten Fassade der Aufsätze
von STAUSS doch zu erkennen, dass es so einfach und unproblematisch
mit diesem Therapiekonzept eben doch nicht ist.


"In dem fünf jährigen Bestehen dieses Modells hat die Klinik viele
Höhen und Tiefen, Phasen der Resignation und Depression erlebt.

Wir hätten schon oft aufgegeben, wenn wir nicht immer wieder eines
gemerkt hätten, was trotz aller Schwierigkeiten immer deutlich ge-
worden und gewachsen ist: Die Atmosphäre in unserem Haus, die Atmos-
phäre echter menschlicher Wärme, des Verstehens, der Zuneigung und
Anteilnahme, die trotz laufendem Wechsel der Gäste und gelegentlichem
Wechsel der Therapeuten und des Personals gleichblieb." (Jetzt Nr. 2,
1977, 4)


Ich möchte nun ein weiteres Buch heranziehen, das einerseits einen
Selbsterfahrungsbericht einer Therapie in Bad Herrenalb enthält,
andererseits kommentierende Erläuterungen des Chefarztes. Es handelt
sich um das Buch "Von mir aus nennt es Wahnsinn" v. Jaqueline LAIR
und Walter LECHLER, in Deutschland 1983 erschienen.

Auch Jaqueline LAIR betrachtet ihre Therapie als erfolgreich, sonst würde sie natürlich auch ein solches Buch kaum veröffentlichen. Allerdings gab
es auch in ihrer Therapie einige Schwierigkeiten.

Wenn auch nicht so krasse wie bei Luise HABEL.


Z. B. berichtet sie vom Verhalten des Therapeuten Peter, nachdem
sie gegen den Ratschlag der Therapeuten mit ihrem Mann Jeff tele-
foniert hat.


"'Ich habe gerade mit Jeff gesprochen', sage ich mit einem breiten
Grinsen. 'Nein, Jackie, nein, Jackie!' 'Doch, Peter. Er hat vorhin
angerufen und sie haben mich aus dem Meeting rausgeholt. '

'Du hast gesagt, du würdest keinen Anruf entgegennehmen!' Peters
Gesicht ist wütend und er beugt sich vor und klopft mir gegen die
Stirn. Es tut nicht direkt weh, aber es ist auch kein zärtliches
Streicheln. Ich bin ganz durcheinander. 'Peter, ich will es dir
erklären.' 'Nein'. Peter dreht sich um und haut ab." (215)


Problematisches berichtet sie auch aus einer Gruppe mit Walter.


"'Jackie, steh auf, geh zu jedem einzelnen hin, schau ihm in die
Augen und sage, 'Bitte, hab mich lieb'. 'Nein, Walter! Ich bin
stocksauer.' 'Tu es!' Er ist unerbittlich und schaut mit strengem
Blick durch seine Brille. Verdammt. Ich muss wieder mal ein Exempel
vorführen, stehe wiederwillig auf und fange an. 'Bitte, hab mich
lieb.' Ich schaue Birgit in die Augen. Das fällt mir nicht leicht.
'Bitte, hab mich lieb.' Die neue Ingrid, die Wütende. Ich bekomme

fast eine Gänsehaut, als ich ihr in die Augen schauen muss.

'Bitte, hab mich lieb.' Jetzt ist Hans an der Reihe. Ich möchte
aufhören damit und drehe mich zu Walter herum. 'Mach weiter. '

Er ist ganz ernst. 'Bitte, hab mich lieb.' Ich könnte heulen,

weiß aber nicht, ob es Wut ist, oder ob es die Worte sind, die

ich sage. 'Bitte, hab mich lieb.' Die hübsche junge Frau ist dran
und schaut verlegen zur Seite. Das macht das Maß voll! Jetzt bin
ich mit meiner Beherrschung am Ende, heule los und würde 'seine
Majestät' mitsamt seinem verdammten 'Weiter' am liebsten erwürgen.
Ich will diese Worte nicht sagen, ich komme mir vor wie ein Bettler.
Warum zwingt er mich dazu? Ich schaue wieder zu Walter rüber. Ich
bin so kaputt. 'Weiter'. " (221-222)


Allerdings hat man bei dieser Patientin noch stärker als bei

Luise HABEL den Eindruck, dass sie sich sehr stark anpasst, sehr
stark die Therapiedoktrin übernimmt, gewissermaßen die brave Pe-
tientin ist, die meint, sich zu befreien und doch nur in eine neue
Abhängigkeit gerät. So klingen viele Äußerungen von ihr wie nachge-
betet, wie Selbstbeschwichtigung.


"Ich habe mich niemals hilflos gefühlt. Ich habe immer gewusst, dass
alles erreichbar war, wenn ich es nur wirklich wollte. Meine Nieder-
lagen waren meine eigene Schuld; ich war niemals ein hilfloses Räd-
chen in dem gewaltigen Getriebe, genannt 'Leben'. (112)

Ich brauchte Beruhigungsmittel und Antidepressiva, um mich vor dem
Eingeständnis meiner gewaltigen Dummheit zu schützen, die mich daran
hinderte, meine Gefühle freizusetzen und tätig zu werden. (86)

Ich bin hier in einer Klinik in Westdeutschland und muss Bilanz
ziehen, WAS ICH MIR ANGETAN HABE." /vom Autor hervorgehoben/ (127)


Es verwundert nicht, dass Jaqueline LAIR so bereitwillig alle Ver-
antwortung, ja Schuld, auf sich nimmt. Man wird in der Klinik
regelrecht dazu erzogen.


Walter LECHLER schreibt:


"In unserer Klinik legen wir den Gästen Fragebögen vor und fordern
sie auf, die Klinik zu bewerten. Wir stellen viele Fragen, ange-
fangen von der Reinlichkeit der Zimmer bis zur Qualität der Thera-
peuten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die alles
mit 'ausgezeichnet' bewerten, das gelernt haben, um dessentwillen
die hergekommen sind. Die Leute, die alles als mies bezeichnen,
erwarten gewöhnlich, dass sie mit allem versorgt werden, was sie
brauchen. Das ist Unsinn." (267)


So werden natürlich unkritische Patienten herangezüchtet, die zu
allem Ja und Amen sagen, was dann auch noch als Erfolg mißver-
standen wird.


Walter LECHLER legt in diesem Buch kein systematisches
Therapiekonzept vor, ich möchte aber einzelne wesentliche Punkte
herausgreifen.


"Wir gestalten selbst die Welt, in der wir leben. Einmal sprang ein
Gast namens Eckhard plötzlich während einer Gruppensitzung auf,

warf seine Arme in die Luft und sagte, 'Jetzt wird mit alles klar.
Ich habe die Hölle selbst geschaffen, in der ich die letzten zwanzig
Jahre gelebt habe.' Es gibt zahlreiche Gäste, die ähnliche Erfahrun-
gen machen und dann die Klinik verlassen, sobald sie das eingesehen
haben." (197)


Hier wird noch einmal ganz klar die Täter-theoretische Position
ausgewiesen, dass ein Mensch eben seine Störungen selbst erschafft.

Allerdings geht LECHLER nicht so weit, auch ein Kind für die Ent-
stehung von Störungen völlig verantwortlich zu machen. Sehr deut-
lich wird das in einem Zitat, wie gewissermaßen ein Übergang von
der geringen Verantwortlichkeit des Kindes zur Verantwortlichkeit
des Erwachsenen stattfinden soll. Es geht dabei um ein Trauma, was
Jackie als zweijähriges Kind erlitten hat. Lechler schreibt:


"Das Erlebnis war anfangs die Ursache für die Fassade, aber dann wurde
es auch zum Alibi für die Fassade. Sie musste das Ereignis als "un-
wirklich, nicht real" behandeln, denn es war zu qualvoll, als dass ein
Kind damit hätte fertigwerden können; aber in dem Maße, wie die
Fassade im Laufe der Jahre dicker wurde, wuchs ihre Unfähigkeit, mit
diesem traumatischen Erlebnis umzugehen." (130)


Für Walter LECHLER gibt es in dem Sinne keine Krankheit.


„Wenn wir in unserer Vorstellung Krankheiten erfinden, haben wir die
Krankheiten. Die Psychotherapie tut das. Wir haben Krankheiten ent-
stehen lassen, die nicht existieren. Unsere Patienten bekommen die
von uns definierten Krankheiten, und dann müssen wir Ärzte sie hei-
len. Alles, was die Psychotherapie definiert, ist Ausdruck von Man-
gel; in der Medizin gibt es Hunderte von Bezeichnungen dafür - Be-
zeichnungen, die der menschliche Verstand den Symptomen von Mangel
und Entbehrung gegeben hat.“ (235)


„In unserer Klinik schaffen wir keine Probleme aus der Welt. Die

Leute, die zu uns kommen, müssen einsehen, dass sie sich selbst von

der fixen Idee lösen müssen, dass sie Probleme haben. Was sie umbringt,
ist die Vorstellung, sie hätten Probleme. Die Gäste müssen sich selbst
für das Leben entscheiden. In unserer Klinik geben wir ihnen alle

nur erdenklichen Hilfen, die sie brauchen, um sich auf diesem neuen
Weg zurechtzufinden.“ (228)


Eine eigentliche Therapie ist dann aber nicht erforderlich, denn:

„Alles, was wir für unsere Gesundung brauchen, liegt in uns selbst

und wartet darauf, von uns entdeckt zu werden. In unserer Klinik be-
gleiten wir Ärzte und Gäste auf dem Weg zu ihrem eigenen Wissen.

Alle unsere Gäste wissen schon längst, was wir sie lehren; sie sind
sich dessen nur noch nicht bewusst. Unsere Mitarbeiter müssen immer
wieder lernen, dass sie nicht Dinge für die Gäste tun, die diese für
sich selbst tun können; durch ihre eigene Suche sollen sie den Gästen
lediglich den Weg zeigen, den sie auch gehen müssen.“ (235)


LECHLER betont die Wichtigkeit eines "Als ob"-Verhaltens.


"Nun ist die Frage: Wie machen wir Liebe zu unserem Sein, un-
serem inneren Wesen? Wir tun so, als ob. Wir programmieren
uns neu. Wir streben nach einer neuen Haltung; wir erreichen
sie, indem wir so tun, als ob. Das müssen wir immer und' immer
wieder tun. So müssen wir an uns arbeiten; auf diese Weise
ändern wir uns." (200)


Es ist interessant zu sehen, dass dieses "Als ob-Verhalten", das
in nahezu allen Veröffentlichungen über Herrenalb eine wichtige
Rolle spielt, recht unterschiedlich interpretiert wird. Bei
Walter LECHLER ist es - wie aus dem Zitat ersichtlich - eine
Methode, um sich allmählich an das gewünschte Verhalten anzu-
nähern.


Realistischer ist die Darstellung von STAUSS. Er beschreibt das
"Als ob-Verhalten" als eine Methode, um Gefühle freizusetzen,
die vorher in bestimmten Symptomen gebunden waren. Wenn z. B.
jemand ängstlich Kontakt vermeidet, dann kann er dadurch, dass
er bewusst und gezielt Kontakte zu anderen aufnimmt, an die Ge-
fühle herankommen, die seiner Kontaktstörung zugrundeliegen.
Zwar ist eine solche Methode auch nicht unproblematisch, aber
bei STAUSS geht es klar darum, Abwehr zu überwinden und nicht,
ein neues Verhalten einzuüben.


Bei Jaqueline LAIR dagegen gewinnt man den Eindruck, das "Als
ob-Verhalten" habe noch eine andere Qualität, es sei eine lebens-
lange Aufgabe, sich auf diese Weise über seine Symptome hinweg-
zusetzen. Es fragt sich jedoch, ob dies nicht eine reine Schau-
spielerei, eine reine Zudeckung bedeutet, die mit Therapie nicht
mehr viel zu tun hat.


Als letzten Punkt der Analyse von Walter LECHLER's Ausführungen
möchte ich auf seine Verquickung von Therapie und Religion
eingehen. Für LECHLER hat eine Störung immer auch etwas mit
Sünde, mit einem Abfall von Gott zu tun. Lechler schreibt:


"Wenn wir schlafen, wenn wir lebende Leichen sind, können wir
nicht erfahren, und daher sind wir von Gott abgeschnitten. Wenn
wir das Leben als Problem ansehen, machen wir keine Erfahrungen
für uns selbst. Das sagt uns die Bibel immer wieder, das wird
in der Bibel als Sünde bezeichnet." (228)

"In jedem von uns gibt es Gebiete, die gefühl- und energielos ge-
worden sind. Wie ich bereits früher gesagt habe, bezeichne ich
diese Stellen als "Sünde". (272)


Vor allem in der sogenannten Bibelstunde, in der LECHLER

die Bibel in höchst eigenwilliger Weise therapeutisch aus-
deutet, legt LECHLER den Patienten nahe, sich gegenüber Gott
zu öffnen.


"Nach meiner Glaubensüberzeugung ist Gott Gesundheit, Glück;
unsere wirkliche göttliche Bestimmung ... Sobald wir uns ent-
schließen, Gott zu dienen und unsere Probleme außer Acht zu
lassen, sind wir frei von ihrem Zwang. Wir erfahren Vergebung.
Das ist ein Gesetz!" (227)


Eine gewisse Gläubigkeit gilt gewissermaßen als Voraussetzung
zum Therapieerfolg.

Das bestätigt auch Jaqueline LAIR. Sie schreibt:


"Wir müssen an eine Macht außerhalb von uns glauben ... Nun hat
Walter diese Überzeugung als ein wesentliches Instrument in sei-
ner Klinik eingesetzt. In geistiger Hinsicht ist der Glaube an
eine höhere Macht ein Bestandteil dieses Prozesses. Walter pre-
digt keine neue Religion, das muss ganz klar gesagt werden. Er
erwähnt Religion niemals. Er erkennt lediglich an, dass keiner
gesund werden kann, ohne dass er an irgendetwas außerhalb von
sich selbst glaubt." (79)


Entsprechend wird dann auch von Luise HABEL sowie Jaqueline LAIR
berichtet, dass die Therapie sie zu Gott zurückgeführt habe .


Hier ist wirklich herauszustreichen: Dass eine solche religiöse In-
doktrination - auch wenn der Patient auf keine bestimmte Glaubens-
richtung festgelegt wird - im Rahmen einer Therapie höchst be-
denklich ist, braucht wohl kaum besonders hervorgehoben werden.