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23.11.15  Erkenntnistheoretische Richtungen 

 

  Realismus: vollständige Erkenntnis ist möglich, Erkenntnis ist Abbildung
Wenn eine völlige Übereinstimung von Wirklichkeit und Erkennen behauptet wird, spricht man auch von „naivem Realismus“. Diese Richtung entspricht der Adäquations-Theorie, nach der die Erkenntnis ein Spiegel der Realität ist. Aber auch die Evolutions-Theorie argumentiert realistisch, da nach ihr ein Überleben von Individuen bzw. Arten nur möglich ist, wenn sie über ein realistisches inneres Modell der Wirklichkeit verfügen.


 Skeptizismus: Erkenntnis ist nur bedingt möglich, wir erkennen nicht die reale Wirklichkeit
Dem Skeptizismus ist vor allem die Korrespondenz-Theorie (einschließlich dem Kritizismus von Kant) zuzuordnen, nach der unsere Erkenntnisse zwar in konstanter Weise mit der Welt korrespondieren, wir aber nicht wissen können, inwieweit wir dabei die Welt so erkennen, wie sie wirklich beschaffen ist. Auch die Kohärens-Theorie könnte man hier einordnen, nach der unser Wissen vor allem danach gemessen wird, dass es ein widerspruchsfreies, in sich stimmiges System bildet, wobei aber der Bezug zum „Ding an sich“ unbestimmt bleibt.


 Agnostizismus: Es ist überhaupt keine (sichere) Erkenntnis möglich
Hier würde ich die Konsens-Theorie unterbringen wollen, obwohl man sie auch als Skeptizismus kennzeichnen könnte. Zwar würden die Konsens-Theoretiker sich selbst normalerweise nicht zum Agnostizismus bekennen, denn sie verstehen eben Konsens als Wahrheit. Aber dass Menschen – in weitgehendem Konsens – immer wieder zu objektiv falschen Aussagen über die Welt kommen, hat die Wissenschaftsgeschichte vielfach bewiesen. Oft stand gerade die Mehrheitsmeinung auf der falschen Seite, während einzelne Forscher, die zu richtigen Erkenntnissen gekommen waren, attackiert wurden. Galilei, Keppler, Kopernikus sind nur einige Beispiele hierfür. Das Wissenschafts-Establishment tut sich sehr schwer mit einem Paradigmen-Wechsel. Somit meine ich: Wenn man der Konsens-Theorie anhängt, muss man auch bereit sein, einen Agnostizismus zu vertreten.


 Irrealismus: Es gibt gar keine Wirklichkeit außerhalb unseres Bewusstsein
Das bedeutet aber: Es gibt keine objektive Wirklichkeit. Hier wäre insbesondere der berühmte Ausspruch von Berkeley zu nennen: ‚esse est percipii.’ Soll heißen, die Welt besteht nur, insofern wir sie wahrnehmen, ohne Bewusstsein gibt es keine Welt. Auch manche Interpretation der Quantenphysik geht in diese Richtung, im „Erkennen“ schaffen wir erst die Wirklichkeit. Hier gilt wiederum: Die Vertreter eines solchen Irrealismus werden sich selbst nicht als solche betrachten, sie sprechen z. B. von einem Konstruktivismus, nach dem wir Gesellschaft unsere Welt und damit unsere Wahrheit konstruieren. Meines Erachtens gibt es aber keine spezielle Wahrheitstheorie, die sich hier zuordnen ließe. Denn bei einer solchen Auffassung kann man nicht mehr sinnvoll von Wahrheit sprechen, hier wird der Erkenntnisbegriff völlig ausgehöhlt, seines Inhaltes beraubt, letztlich ad absurdum geführt.


 Solipsismus: Es gibt keine Wirklichkeit außerhalb meines Bewusstseins  
Das ist die härteste, konsequenteste, rebellischste Ablehnung aller objektiven Erkenntnis, es ist der totale Subjektivismus. So gesehen besitzt diese Richtung zwar einen gewissen Charme  und Originalität, aber wirklich ernst nehmen kann man sie nicht. Eine anerkannte Wahrheitstheorie ist hier natürlich auch nicht zu nennen. Dennoch, heute hör man oft die Redeweise „wahr für mich“; es gibt eine Tendenz, dass jeder selbst entscheiden will, was – für ihn – wahr ist und was nicht, ggf. auch ohne Argumente, einfach, weil man das als wahr erklärt, was einem gefällt: „wahr ist, was (mir) gefällt“. Dies begünstigt allerdings einen erkenntnistheoretischen Anarchismus und bedroht jegliche objektivierbare Erkenntnis. Trotz allem, der Solipsismus kann uns daran erinnern, dass wir letztlich nur über unser eigenes Bewusstsein direkt verfügen, alle andere Erkenntnis ist vermittelt.
 

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14.11.15  DIE  WELT  ALS  GANZE


1  DIE 5 DIMENSIONEN
Man kann die Wirklichkeit oder die Welt in 5 Dimensionen bzw. (Teil-)Welten unterteilen:

Form  (logisch-mathematische Welt)
Geist (immaterielle, kulturelle Welt)
Bewusstein (Welt des psychischen Inhalte)
Sprache (Welt der Zeichen)
Materie (stoffliche Welt)

2  ANZAHL DER WELTEN
Es gibt gute Gründe für diese 5er-Unterteilung („Quintismus“). Es ließen sich allerdings auch andere Einteilungen vertreten wie in der 3-Welten-Theorie von Karl Popper. So gesehen ist die 5er Unterteilung nur partiell ontologisch, vor allem aber pragmatisch begründet (optimale Übersichtlichkeit).  
   Hier stellt sich das Problem des Reduktionismus: Sind diese 5 Dimensionen auf ganz wenige elementare Dimensionen, eventuell auf zwei oder sogar nur eine zu reduzieren? Zwar könnte man z. B. argumentieren, das Bewusstsein ließe sich auf das Gehirn  als hochkomplexe Materie  zurückführen, aber dieser und andere Reduktionismen bleiben letztlich unbefriedigend.

3  DUALISMUS
Eine wesentliche Position in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte ist – bis heute – der Dualismus, primär der von Materie und Geist (bzw. Bewusstsein). Danach ließen sich alle Dimensionen der Wirklichkeit auf Materie und/oder Geist zurückführen. Ich diskutiere die wichtigsten Positionen:
- Materialismus: Materie --> Geist
Die Materie schafft oder bestimmt den Geist, bzw. der Geist ist nur eine Illusion.
- Idealismus: Geist --> Materie
Der Geist schafft oder determiniert die Materie, bzw. ist die Materie  letztlich nur eine Illusion.
- Unionismus: Materie = Geist
Materie und Geist  verhalten sich  wie zwei Seiten einer Münze.
- Unitarismus:  Materie <-- X --> Geist
Es existiert ein Prinzip X als Basis von Materie und Geist, z. B. ist Energie dieses Prinzip X.
- Interaktionismus: Materie <-- --> Geist
Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Materie und Geist.   

4  MONISMUS
Wie der Dualismus nicht überzeugt, so auch der Monismus, also die Rückführung aller Welten auf eine Dimension, vorrangig die Materie (materialistischer Monismus). Dies könnte folgendermaßen aussehen:   Form   -->  Geist  -->  Psyche  -->  Sprache  -->  Materie.     
Zwar kann man den Monismus als philosophisches Ideal ansehen, da Einheit und Einfachheit deren höchste Ziele sind, aber man darf die Komplexität der Wirklichkeit nicht zwanghaft reduzieren.
                 
5  HOLISMUS
Ich versuche zu zeigen, dass die 5 Welten zwar nicht auf eine Einheit (monistisch) zu reduzieren sind, aber dass sie eine Ganzheit bilden. Generell vertrete ich die Auffassung, dass Ganzheit das zentrale Wirklichkeitsprinzip ist. Diese Auffassung kann man  Holismus  nennen. Der Begriff der Ganzheit ist sehr komplex und wird in anderen Schriften von mir genau erläutert. Dabei beziehe ich mich primär auf  System-Theorie und Polaritäts-Theorie, aber auch auf die Theorie der Selbstähnlichkeit, auf Holographie und Chaos-Theorie.
    Polarität bedeutet: Zwei Entitäten oder Begriffe stehen im Gegensatz, bilden aber zusammen eine Ganzheit. Z. B. Welle und Teilchen in der Physik. Eine universalistische Polaritätslehre bietet das taoistische Modell von Yin und Yang.  Ein System (als Ganzheit) ist eine Menge von Elementen, die in Abhängigkeit zueinander stehen und gegenüber einer Umwelt eine Einheit bilden: Z. B. ist der Wald das System gegenüber den einzelnen Bäumen als Elementen.


Literatur:
Dieser Text stammt aus meinen Schriften zur Integralen Philosophie. Ursprünglich hatte ich ein Buch zur Integralen Philosophie geplant, die Verwirklichung ist allerdings nicht abzusehen. Es wäre eine sehr aufwendige Arbeit, und ich bin zusehends skeptischer gegenüber solchen Großprojekten.  
 

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11.11.15  Schuldgefühl-Antinomie    

Ich beschreibe hier eine Paradoxie über das Thema„Schuldgefühle“.

Beispiel: „Nur wenn Georg Schuldgefühle hat, dann hat er keine Schuldgefühle.“

Formalisieren wir das:

A = Georg hat Schuldgefühle    nicht A = Georg hat keine Schuldgefühle

Es gilt: nur wenn A, dann nicht A  (das ist logisch eine Replikation):  

formal -A <-- A

Die Replikation -A <-- A ist logisch äquivalent der Implikation A --> -A.

Das bedeutet, es gilt also auch: immer wenn A, dann nicht A, im Beispiel:

„Immer wenn Georg Schuldgefühle hat, dann hat er keine Schuldgefühle.“

Das ist plausibel. Aber nicht, dass  -A <-- A sowohl A <-- -A als auch -A --> A ausschließt, wie sich durch Wahrheitstafeln beweisen lässt.

Für unseren Fall wäre psychologisch doch einleuchtend, dass auch gälte:

„Nur wenn Georg keine Schuldgefühle hat, dann hat er Schuldgefühle.“ Bzw.

„Immer wenn Georg keine Schuldgefühle hat, dann hat er Schuldgefühle.“

„Nur wenn A, dann nicht A“ (bzw. „Immer wenn A, dann nicht A“) ist aus Sicht einer natürlichen Logik ein logischer Widerspruch, allerdings nicht bei Verwendung der normalen Implikation (zur Kritik der normalen Implikation an anderer Stelle).

All das zeigt: Die Aussagen-Logik, jedenfalls die verbreitete mit der normalen Implikation, ist nicht wirklich geeignet, unser Problem zu analysieren.

Ähnlich wie betreffend Schuldgefühle könnte man auch formulieren:

„Georg fühlt sich nur dann gut, wenn er sich schlecht fühlt.“

Wie sind solche Aussagen zu interpretieren? Man könnte wie gesagt argumentieren, diese Aussagen sind logisch widersprüchlich und so gesehen falsch (in jeder möglichen Welt) oder sinnlos.

Aber eine derartige Aussage kann psychologisch doch durchaus Sinn machen: Sie verweist auf einen autoaggressiven Menschen bzw. einen Menschen, der zur Selbstbestrafung neigt. Georg hat ein negatives Selbstbild, er findet sich schlecht, fühlt sich schuldig. Er meint, er habe kein Recht, sich gut zu fühlen. Nur wenn er sich durch Schuldgefühle selbst bestraft, darf er sich besser fühlen. Also pointiert: nur wenn er Schuldgefühle hat, dann hat er keine Schuldgefühle. 

Psychologisch ist das also durchaus nachvollziehbar, aber es bleibt das Problem des (scheinbaren) logischen Widerspruchs – jedenfalls aus der Sicht einer natürlichen, intuitiven Logik.

Ich habe im Moment auch noch keine eindeutige Lösung für dieses logische Problem, will aber zwei Ansätze vorschlagen:

1. zeitliche Folge

Wenn Georg sich schlecht fühlt, dann fühlt er sich – danach – gut.

Hier liegt kein Widerspruch vor, denn Georg fühlt sichzum Zeitpunkt ti schlecht und erst zu einem späteren Zeitpunkt tj gut – die herkömmliche Logik abstrahiert zwar von der Zeit, aber natürlich kann man auch eine Zeitlogik aufbauen.

2. Verschiedene Ebenen

Georg hat Schuldgefühle. Auf einer Meta-Ebene nimmt man Bezug auf diese Tatsache: Er empfindet keine Schuldgefühle darüber, dass er Schuldgefühle hat (sondern gerade umgekehrt). Auf der unteren Ebene hat er die Schuldgefühle. Aber auf der oberen nicht. So gesehen liegt kein Widerspruch vor, wenn man die Ebenen getrennt betrachtet.

Formal könnte man - vereinfacht -  schreiben:

Schuldgefühle(Georg)

–Schuldgefühle(Schuldgefühle(Georg))

Wenn man „–Schuldgefühle“ definiert als „gutes Gewissen“, könnte man auch schreiben: gutes Gewissen(Schuldgefühle(Georg))

[Das Minuszeichen – dient als Negation, weil der

Homepagecreator das logische Zeichen für die Negation leider nicht darstellen kann.]

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06.11.15  Zwei Modelle von Zufall 

Zur Analyse des Zufalls muss man zunächst zwischen empirischer Wahrscheinlichkeit (bzw. relativer Häufigkeit) und theoretischer Wahrscheinlichkeit unterscheiden.
Z. B. beim Münzwurf: Dass in 4 Würfen 2x Kopf (und entsprechend 2x Zahl) kommt, bedeutet eine empirische Wahrscheinlichkeit von 2/4 = 50%. Die theoretische Wahrscheinlichkeit dafür beträgt aber 6/16 = 3/8 =

Man kann in der Wissenschaft 2 Modelle von Zufall unterscheiden:

1) Gleichwahrscheinlichkeits-Modell
Zufall ist der empirische Wert, der die höchste theoretische Wahrscheinlichkeit besitzt, der am ehesten zu erwarten ist, wenn keine Gesetzmäßigkeit besteht. Das ist bei 2 Variablen 50%. (Also z. B. dass in 4 Münzwürfen 2 x Kopf kommt)
Von Gleichwahrscheinlichkeit kann man sprechen, weil es gleichwahrscheinlich ist (50%), dass ein Sachverhalt besteht oder nicht (also dass Kopf oder dass Zahl kommt).

2) Unwahrscheinlichkeits-Modell    
Zufall ist hier ein niedriger empirischer Wert (jedenfalls < 50%, aber normalerweise < 10%), der gerade durch eine sehr niedrige theoretische Wahrscheinlichkeit gekennzeichnet ist. Es gibt zwar eine Regel, aber der Zufall ist gewissermaßen gerade die Ausnahme von der Regel. Ein empirischer Wert von z. B. 10% besitzt eine niedrige theoretische Wahrscheinlichkeit, weil eben (bei 2 Variablen) ein Wert von 50% am wahrscheinlichsten ist, der stark abweichende Wert von 10% entsprechend unwahrscheinlich.

Damit besteht ein starker Unterschied, ja Gegensatz zwischen den Definitionen von Zufall als Unwahrscheinlichkeit und Zufall als Gleichwahrscheinlichkeit.
Erstaunlich nur, dass dies m. W. in der Wissenschaft kaum wahrgenommen und exakt differenziert wird.

Nochmals zur Übersicht ein anderes Beispiel:

1) Gleichwahrscheinlichkeits-Modell (keine Regel, keine Korrelation)    

50% aller Raucher haben Bronchitis / 50% aller Raucher haben keine Bronchitis: 
Es ist weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich, sondern zufällig,
   dass ein Raucher Bronchitis hat
Und es ist weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich, sondern zufällig,
   dass ein Raucher keine Bronchitis hat.

2) Unwahrscheinlichkeits-Modell    (statistische Regel, Korrelation)    

95% aller Raucher haben Bronchitis / 5% aller Raucher haben keine Bronchitis:  
Es ist wahrscheinlich, dass ein Raucher Bronchitis hat
Es ist unwahrscheinlich  = zufällig, dass ein Raucher keine Bronchitis hat
(Ausnahme von der Regel)

Literatur:
Eine viel genauere Analyse von Zufall, auch mit erweiterten Zufallsbegriffen, findet sich in meinem Text: „Was ist Zufall?“, hier auf der Homepage.
 

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01.11.15  Was ist Mega-Ganzheit ?

1)  BEGRIFF
Der Begriff "Mega-Ganzheit" klingt vielleicht etwas (irri­tierend) bombastisch. Er soll aber einfach - ähnlich wie Megatrend, wie Megabrain, Megakrise u.a. - eine Steigerung aus­drücken, konkret eine übergeordnete, umfassende Ganzheit. Eventuell wäre aber der Begriff  „Meta-Ganzheit" noch passender (in späteren Jahren habe ich in der Tat diesen Begriff verwendet).

2)  DEFINITIONSPROBLEMATIK
"Mega-Ganzheit" kann nicht eindeutig definiert werden. Ein­mal, weil sie sich nicht vollständig sprach-rational erfassen lässt, sondern auch außersprachliche Dimensionen miteinbezieht; zum andern, weil sie als vorläufiges, offenes Konzept verstan­den wird, das noch weiter erforscht werden muss, oder sogar als evolutionäres Prinzip (das ist kein Trick, sich einer Definition zu entziehen, sondern ein Bekenntnis zu den Grenzen des Wissens).

3)  BESTIMMUNG
Vorläufig lässt sich Mega-Ganzheit (M-G) etwa durch folgende Merkmale bestimmen:
- Pluralität: Ein mega-ganzheitliches System verfügt über viele "Freiheitsgrade", über  vielfältige (im Extrem alle) Verhaltensmöglichkeiten.
- Integration: Diese Vielfalt ist aber nicht beliebig aneinandergereiht,  sondern zu einem  Ganzen strukturiert, die Auswahl der Möglichkeiten erfolgt nicht zufällig.
- Flexibilität: Andererseits werden die Verhaltensweisen auch nicht nach einem starren  Schema selektioniert, sondern flexibel, elastisch.
- Evolution: Hauptziel bei seinen Verhaltensentscheidungen ist für das System, sich – in  Austausch mit seinen Umwelten – weiterzuentwickeln, kreativ zu sein.

4)  POLARITÄTS-LEHRE
Man könnte die M-G an verschiedenen Modellen veranschauli­chen (vor allem auch innerhalb der Systemtheorie, wie ich es an anderer Stelle vollzogen habe).
Ich gehe hier aber nur von der Polaritäts-Lehre aus, deren verschiedene Positionen ich beschreibe:

 

1 . YIN
Forderung nach einer ständigen (absoluten oder relativen) Dominanz des Yin, des Erdhaft-Natürlichen, Körperlich-Emotio­nalen, oft eingeengt auf Sanftheit, Weichheit und Liebe (problematischerweise meist mit dem Weiblichen gleichgesetzt).
Kritik: Es ist normalerweise nicht möglich, dauerhaft nur sein Yin zu leben. Bei allen Schwierigkeiten einer genauen Definition des Yin: Ihm fehlen einfach die - lebensnotwendige  - Selbstbehauptung, Struktur, Bewusstheit. Wir können nicht völlig zurück in eine präpersonale, prärationale, un­bewusste Vormoderne, ins Mythisch-Magisch-Archaische.

2. YANG
Forderung nach einer ständigen (absoluten oder relativen) Dominanz des Yang, des Rational-Egohaften, Manipulativ-Technischen (wie es mit dem Männlichen gleichgesetzt wird).
Kritik: Dies ist die Haltung der Aufklärung, der mechanisti­schen Moderne, die uns mit ihrer Aggressivität, Naturbeherr­schung und Frauenunterdrückung die gegenwärtige Krise beschert hat und überwunden werden muss.

3.  GANZHEIT VON YIN UND YANG
1) und 2) sind mono-polar, berücksichtigen (fast) nur einen Pol. Hier wird jetzt - bi-polar - ein Gleichgewicht der Pole gefordert, entweder in Form einer permanenten Mitte (der androgyne Mensch) oder in Form eines dynamischen, periodischen Aus­gleichs (wie es das Yin-Yang-Kreissymbol zeigt).
Kritik: Eine unveränderliche, genaue Mitte: 50 % Yin, 50 % Yang, ist steril, verkommt von der goldenen Mitte zur Mittel­mäßigkeit. Aber auch der Wechsel nach einem starren Rhythmus ist schematisch, erlaubt keine Adaption und Evolution.

4.  EINHEIT VON YIN UND YANG
Hier wird eine trans-polare Haltung gefordert, eine Über­windung der Polarität durch vollständige (Wieder-)Vereinigung der Pole. Man zielt auf das Tao, in dem Yin und Yang noch ununterschieden ruhen.
Kritik: Dieser transpersonale, transrationale Seinszustand ist nicht sicher zu erfassen. Er ist am ehesten in der inneren, meditativen Erfahrung zugänglich. Aber es bleibt fragwürdig, ob man ihn konkret in unserer polaren Welt leben kann, und wenn, ob nicht nur in ausgesuchten Momenten der Existenz, also nicht im praktischen Alltag.

5.  MEGA-GANZHEIT
M-G könnten wir jetzt beschreiben als Integration der bis­her aufgezählten Möglichkeiten (1 - 4), daher als umfassende, höhere, echte Ganzheit. Grundsätzlich in einer Mitte von Yin und Yang leben, aber nicht starr, sondern mit zyklischen Schwankungen. Dabei jedoch bereit sein, sich ganz ins unter­bewusste Yin, ins bewusste Yang oder ins überbewusste "Tao" zu begeben. Flexibel, nach eigenen spielerischen oder evolutionären Be­dürfnissen, oder auch als notwendige Reaktion auf Umweltein­flüsse. Wandlungsfähig bleiben, dabei aber seinen Kern, seine Mitte, seine Identität, das im Hier-und-Jetzt verankerte Yin-Yang-Gleichgewicht nicht endgültig aufgeben. Die Mega-Ganzheit ist natürlich eine Idealvorstellung, der man sich annähern, die man aber vielleicht nie vollständig verwirklichen kann.

 

Literatur: Diesen Text schrieb ich ursprünglich bereits 1989.

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