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(29.11.2016)




17.07.16  Psychologische Hintergründe der Täter-Theorie (3)

 

Schutz der Eltern: Abwehr des Kindheitsleids


Die Eltern spielen normalerweise die entscheidende Rolle dabei, wenn ihre Kinder unglücklich sind oder es später als Erwachsene werden. Gerade die Unglücklichkeit, die nicht von den gegenwär­tigen Lebensumständen erzeugt wird, sondern anscheinend aus der Person selbst erwächst, beruht zum großen Teil auf einer schäd­lichen, unterdrückenden Erziehung, die das Kind seinem wahren Wesen entfremdete.


Diese Verhältnisse werden aber individuell wie gesellschaftlich weitgehend verdrängt. Es herrscht (mehr unbewusst) bis heute die Doktrin, dass Eltern immer recht und Kinder immer unrecht haben. Die Kinder sind an allem schuld, die Eltern waschen ihre Hände in Unschuld. Und auch offensichtliches Fehlverhalten rechtfer­tigen Eltern mit der Formel "Wir wollen ja nur dein Bestes" - was auch stimmt, denn sie wollen den besten 'Teil ’ des Kin­des, sein wahres Selbst, ganz für sich haben. Das zum Mythos: 'Mutter ist die Beste ’, 'Vater ist der Beste ’.


Indem man daran glaubt, dass man sich selbst unglücklich macht und die Eltern somit in Schutz nimmt, lässt sich das ganze Kind­heitsleid abwehren: die vielen Enttäuschungen über die Eltern, die Angst vor ihnen, die Wut auf sie, welche man aber aus Furcht vor Strafe am wenigsten äußern durfte. Wir können auch hier - parallel zu den beiden ändern Punkten - festhalten: Der Mensch fühlt sich oft lieber selbst schuld an seinem Unglück­lichsein, als dass er sich den Erinnerungen an sein Kindheits­elend stellt.


Vor allem die Psychoanalytikerin Alice MILLER hat darauf auf­merksam gemacht, welche Macht das Tabu, die Eltern (und damit die eigenen Verdrängungen) um jeden Preis zu schützen, auch heute noch besitzt. Sie führt das u.a. auf das vierte Gebot "Du sollst Vater und Mutter ehren" zurück. Im Klappentext von MIL­LERS Buch "Du sollst nicht merken" wird ihr Ansatz gut zusam­mengefasst:


"'Du sollst nicht merken" ist ein nirgends ausgesprochenes, aber sehr früh verinnerlichtes Gebot, dessen Wirksamkeit im Un­bewussten des Einzelnen und der Gesellschaft Alice Miller zu be­schreiben versucht. Dieses Gebot spiegelt sich in der herkömm­lichen, in der abendländischen Kultur und Religion verankerten Tendenz der Erzieher, im Kind so früh wie möglich das Gefühl der eigenen Schuld und Schlechtigkeit zu wecken und damit sei­nen Blick und Sinn für das, was man ihm angetan hat, zu trüben. So kann die in unserer Gesellschaft voll legalisierte Opferung des Kindes verschleiert bleiben." (Klappentext von MILLER 1981)


Alice MILLER hat besonders herausgestellt, wie weit auch in Therapien an der 'Eltern-Schonung' festgehalten wird, dass man­che Therapien mehr die Fortsetzung einer unterdrückenden Erzie­hung bedeuten. Sie nennt dabei auch die Therapieansätze von HALEY, ERICKSON und SELVINI-PALAZZOLI, die eng mit WATZALWICKS Kommunikationstherapie verwandt sind. Aber man kann hier eben­falls PERLS anführen, den Begründer der (humanistischen) Ge­stalttherapie:


"Wie ihr wisst, haben die Eltern niemals recht. Sie sind entwe­der zu groß oder zu klein, zu klug oder zu dumm. Wenn sie streng sind, sollten sie nachgiebig sein, und so weiter. Aber wann findet man Eltern, die in Ordnung sind? Du kannst den El­tern immer die Schuld zuschieben, wenn Du das 'Du bist schuld'-Spielchen spielen willst, und die Eltern für deine ganzen Pro­bleme verantwortlich machen willst." (PERLS 1976, 5O)


PERLS missversteht anscheinend, dass es ja nicht darum geht, El­tern moralisch anzuklagen, sondern zum einen - ohne Wertung -die Ursachen von Unglücklichkeit aufzudecken. Vor allem aber, dass es für den Patienten in einer Therapie wichtig ist, seine verdrängten negativen Gefühle gegenüber den Eltern wiederzuerleben, sich von unberechtigten Schuldgefühlen zu befreien, ohne deswegen seine eigene Verantwortung aufzugeben.


WATZLAWICK hat zwar eine tiefenpsycholo­gische Erklärung für psychische Störungen nicht gänzlich abge­lehnt, auch bei ihm finden sich manchmal Hinweise auf die Rolle der Eltern bei der Entstehung solcher Störungen. Aber in jedem Fall hielt und hält er eine tiefenpsychologische Therapie - bei der das Verhalten der Eltern 'entlarvt' werden kann - für nutz­los bis schädlich. Was letztlich ebenso auf einen Schutz der Eltern hinausläuft.


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08.07.16 Psychologische Hintergründe der Täter-Theorie (2)

                             

Der Wille zum Sinn: Die Abwehr von Sinnlosigkeit


Wenn jeder seine Unglücklichkeit selbst erzeugt, und auch noch gezielt, dann ist die Welt des Unglücks schön geordnet. Es gibt kein Unglück, das ungerecht und absurd über einen hereinbricht, sondern wenn jemand von einem Leiden betroffen wird, dann hat er dieses ja selbst gewollt und geschaffen.


Mit einer solchen Einstellung lässt sich gut abwehren, dass Un­glück und Unglücklichsein oft ganz sinnlos sind. Sie können ei­nen ganz zufällig treffen, man hat einfach Unglück, Pech ge­habt. Das Schicksal richtet sich eben nicht nach menschlichen Denkkategorien, es schlägt ohne Sinn und Verstand zu.

Der Psychotherapeut Victor FRANKL hat vom "Willen zum Sinn" des Menschen gesprochen. Der Mensch ist für ihn ein sinnbedürftiges Wesen, immer "auf der Suche nach Sinn", das nur dann befriedi­gend oder überhaupt leben kann, wenn ihm sein Leben in irgend­einer Weise als sinnvoll erscheint.


Nach FRANKL besitzt aber auch jedes Unglück noch einen Sinn:

"Es gibt keine Lebenssituation, die wirklich sinnlos wäre. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die scheinbar negativen Seiten der menschlichen Existenz, insbesondere jene tragische Trias, zu der sich Leid, Schuld und Tod zusammenfügen, auch in etwas Positives, in eine Leistung gestaltet werden können, wenn ihnen nur mit der rechten Haltung und Einstellung begegnet wird." (FRANKL 1979, 159)


FRANKL behauptet allerdings nicht, dass Unglück(lichkeit) inso­fern sinnvoll wäre, als wir es/sie selbst geschaffen hätten. Sondern er sieht den Sinn von Leiden primär in der Chance, durch standhaftes Festhalten am Sinnprinzip die Wesensart des Menschen - als Sinn-Wesen - zu demonstrieren. In jedem Fall geht er von einer "bedingungslosen Sinnträchtigkeit" des Lebens aus, die auch jegliches Leiden umfasst.


Es muss FRANKL sicher zugestimmt werden, dass der Mensch nach Sinn verlangt, geradezu sinnsüchtig ist. Ebenso, dass er eine schwere Lebens- und Leidenssituation bestimmt leichter überste­hen kann, wenn er daran festhält, sie müsse einen, wenn auch vielleicht (noch) verborgenen, Sinn besitzen.


Daraus folgt aber noch nicht, jede Unglücklichkeit müsse ihren Sinn in sich tragen. Es soll hier keine allgemeine Diskussion geführt werden, inwieweit es überhaupt objektiven Sinn im Leben gibt. Aber viele Leidenszustände sind offensichtlich sinn­widrig, widersinnig, ungerecht und unbegreiflich.

Da stellt sich dann quälend die Frage nach dem Sinn, vor allem die Frage: 'Warum gerade ich?' Und wenn sich eben kein Sinn finden lässt, wird der Unglückliche häufig einen erfinden, er wird eine Sinndeutung seines Unglücks versuchen; diese ist und bleibt aber nur eine Rationalisierung. In seiner Verzweiflung greift der Mensch dabei auch recht unsinnige Deutungsangebote auf, wie dass das Leiden seine eigene, gewollte Schöp­fung sei.


Von besonderem Interesse sind hier auch religiöse Sinndeutun­gen. Dass diejenigen, denen es gut geht, Unglücklichkeit gerne als göttliche Bestrafung für Sünden ansehen, ist noch leicht einzusehen. Sie können sich selbst als von Gott Belohnte füh­len und brauchen kein übermäßiges Mitgefühl oder Hilfe für die Unglücklichen aufzubringen, da diese ja nur ihre gerechte Stra­fe erleiden.


Der schon zitierte KUSHNER schreibt hierzu:

"Es ist ehrlich verlockend, daran zu glauben, dass Leuten Böses widerfährt (vornehmlich anderen), weil Gott ein gerechter Rich­ter ist, der ihnen genau das zumisst, was sie verdienen. Indem wir daran glauben, können wir das Bild Gottes als eines All­mächtigen, All-Liebenden, Alles-Regierenden aufrecht erhalten." (KUSHNER 1983, 21)


Aber warum hilft der Glaube, das seelische (oder auch körperliche, soziale usw.) Leid sei Gottes Antwort auf das eigene Verhalten, auch unglücklichen Menschen selbst? Genauso wie im letzten Punkt beschrieben wurde, dass der Mensch sich oft lieber schuldig als ohnmächtig fühlt, so leidet er oft lieber aus Schuld als ohne jeden Sinn, auch wenn er Got­tes Wille nicht versteht.


Es kann allerdings auch seelische Krisen geben, die tatsächlich einen Sinn haben. Wie Denn be­stimmte Leidenszustände sind auf Abwehr noch größeren Un­glücks oder auf Selbstheilung ausgerichtet. Bzw. haben sie all­gemein die Funktion oder den Zweck, das Gleichgewicht oder die Identität des Menschen zu sichern. Eine psychische Krankheit kann auch eine Signalfunktion besitzen. Psychi­sche und körperliche Störungen scheinen häufig symbolisch aus­zudrücken, dass mit dem Menschen etwas nicht stimmt, er sich in einer Krise befindet. Die Unglücklichkeit mag darauf hinweisen und überdies einen 'Aufforderungscharakter ’ zur Änderung haben.

Dieser mögliche Signalsinn von Unglücklichsein wird aber heute sehr oft spekulativ überinterpretiert. Man unterstellt nahezu jeder psychischen oder körperlichen Störung, sie sei eine Bot­schaft bzw. Warnung des Unbewussten oder des Körpers und von da­her sinnvoll. Ein solcher Sinngebungsexzess dürfte doch eher der Abwehr dienen.


Auch die Betrachtung des körperlichen Schmerzes - gewissermaßen eine Parallele zum psychischen Schmerz - spricht gegen eine generelle Sinnzuweisung. Der Schmerz ist zunächst ein sinnvolles Signal, das auf eine Störung hinweist. Vor allem der chronische Schmerz muss aber oft sinnlos genannt werden, beson­ders wenn die Krankheit unheilbar ist oder es sich um einen so­genannten Phantomschmerz handelt.


Es gibt sicher auch Fälle, in denen ein Leiden zwar keinen Sinn in sich besitzt, man ihm aber einen Sinn zu geben vermag; und zwar einen echten Sinn, der nicht nur zur Abwehr dient. Ein Leiden, ein Unglücklichsein mag dazu genutzt werden, das eigene Leben zu überdenken und neu zu gestalten, eine Krise kann die Chance zur Reifung bieten.

Häufig macht seelisches oder körperliches Leid den Menschen aber nur deprimiert und verbittert und raubt ihm gerade die Möglichkeit zur Entwicklung.


In jedem Fall zeigt die radikale Einstellung, alles, was ge­schehe, sei sinnvoll oder sogar das Bestmögliche, einen deut­lichen Abwehrcharakter. Hier ist das 'Prinzip Sinn ’ überstrapa­ziert und der Wille zum Sinn gebiert ungewollten Unsinn.


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08.07.16  Psychologische Hintergründe der Täter-Theorie (1)

 

Ich habe in den beiden letzen Beiträgen unterschieden zwischen einer psychologischen Täter- und Opfer-Theorie. Die Täter-Theorie geht davon aus, dass wir psychische Probleme (Angst, Depression, Unzufriedenheit) primär selbst verursachen und aufrechterhalten, also „Täter“ unserer eigenen Unglücklichkeit sind. Die Opfer-Theorie geht davon aus, dass psychisches Leid primär von außen, durch die Umwelt, verursacht wird, wir also „Opfer“ unserer Depression oder Frustration sind.

 

Man könnte auch allgemeiner von einer Ich-Theorie sprechen, nach der unser Ich sich seine Welt selbst schafft und gestaltet („Jeder ist seines Glückes Schmied“). Entsprechend kann man von einer Umwelt-Theorie sprechen, nach der unsere Umwelt- und Mitwelt uns maßgeblich beeinflusst und prägt. Die Täter-Theorie glaubt an die totale Selbstbestimmung des Menschen, die Opfer-Theorie sieht den Menschen überwiegend fremdbestimmt.

 

Ich möchte nun nachfolgend in drei Teilen die psychologischen Hintergründe einer( pointierten) Täter-Theorie beschreiben.

Die Frage lautet: Warum glauben viele Menschen an die Lehre von der selbstgeschöpften Unglücklichkeit, obwohl viele Argumente offensichtlich dagegen sprechen.

Wenn man die psychologischen Hintergründe untersucht, so fragt man nach den zugrundeliegenden - gerade auch unbewussten - Er­fahrungen, Einstellungen, Gefühlen, Bedürfnissen u.a. Ich möch­te besonders die Abwehrfunktion der These von dem selbstfabri­zierten Unglück herausstellen. Sie dürfte - was zunächst er­staunen mag - vor allem dazu dienen, unlustvolle Erinnerungen und Gefühle wie Schmerz, Angst oder Wut aus dem Bewusstsein fernzuhalten.

 

Narzissmus: Die Abwehr von Ohnmächtigkeit


Ein entscheidender Faktor bei der Täter-Theorie ist: Wir sind mächtig. Wir sind selbst die Herren, die Meister unseres Glücks oder Unglücks, alles liegt nur an uns. Durch eine solche Posi­tion lässt sich abwehren, dass wir tatsächlich der (Entstehung von) seelischem Leid oft ganz ohnmächtig ausgeliefert sind und es vor allem in der Kindheit waren. Dass einfach etwas mit uns geschah oder gemacht wurde, was das Unglücklichsein hervorrief.

Man kann diese Auffassung von der Herrschaft des Menschen über sein Unglück im Rahmen des Narzissmuskonzeptes interpretieren. Allerdings ist der Narzissmus ein sehr komplexes Phänomen (und entsprechend komplex ist die Narzissmustheorie). Ich möchte hier nur den - wenn auch wesentlichen - Faktor der Macht bzw. Ohn­macht herausgreifen.


Gemäß der Entwicklungspsychologie erlebt sich der Säugling - in der Symbiose mit der Mutter - als allmächtig, solange seine Be­dürfnisse quasi automatisch befriedigt werden. Besonders in der sogenannten analen Phase (etwa 1. bis 2. Jahr) entwickelt das Kleinkind magische Vorstellungen der Allmacht seiner Gedanken und Wünsche. Man spricht hierbei von "primärem Narzissmus".


Normalerweise bildet sich dieser kindliche Narzissmus im Verlauf der Entwicklung allmählich zurück. Erleidet jemand aber als Kind quälende Ohnmachtserfahrungen (weil seine Bedürfnisse ignoriert werden), so kann sich der primäre zu einem „sekundären, kompensatorischen“ Narzissmus wandeln. Der Psychotherapeut WUNDERLI schreibt über diese Dynamik:

"Der Narzissmus in uns wird unterdrückt und verdrängt, wenn die narzisstischen Bedürfnisse schon im frühen Kindesalter chronisch frustriert werden. Menschen, die an einer narzisstischen Persön­lichkeitsstörung leiden, entdecken in einer Analyse so oft die tragische Geschichte ihrer Kindheit als eine lange Kette schwerer narzisstischer Frustrationen, dass man bei aller gebo­tenen Vorsicht geneigt ist, an einen Zusammenhang zu denken." (WUNDERLI 1983, 12-13)


Beim sekundären Narzissmus phantasiert der Mensch ein grandio­ses eigenes Selbst, ein Größenselbst (im Extrem wird er 'grö­ßenwahnsinnig'). Durch diese Größenphantasien vermag er soge­nannte narzisstische Kränkungen wie Machtlosigkeit, Schwäche, Unterlegenheit etc. abzuwehren bzw. zu kompensieren (vgl. hier­zu z.B. LÖWEN 1984, besonders S. 91 ff).

Eine solche narzisstische Störung lässt sich sehr wohl als psy­chologischer Hintergrund der Auffassung von der 'hausgemachten ’ Unglücklichkeit vorstellen. Wenn jemand daran glaubt, er selbst mache sich unglücklich, wolle vielleicht sogar unglücklich sein und könne diesen Zustand aber auch wieder überwinden, so vermeidet er damit ein panisches Gefühl von Ausgeliefertsein.


Wahrscheinlich fühlt er sich trotzdem schlecht, da er sich ja als verantwortlich oder gar schuldig für sein Unglück begreift. Aber es gilt (unbewusst): 'lieber schuldig als ohnmächtig' - nur nicht die entsetzliche Hilflosigkeit der Kindheit wieder ins Bewusstsein aufsteigen lassen! Für einen narzisstischen Menschen ist es deshalb auch meistens schwierig, sich in eine Therapie zu begeben, weil er damit eingestehen muss, sein Leben allein nicht zu bewältigen.


Wenn überhaupt, wird er eher eine Therapie aufsuchen, bei der ihn der Therapeut in seiner Meinung, die Unglücklichkeit wäre sein Geschöpf, bestätigt. Der Therapeut handelt aber womöglich aus dergleichen narzisstischen Abwehr heraus. Es ängstigt oder ärgert ihn, wenn der Klient sich hilflos verhält und nicht genü­gend Fortschritte macht, weil das an seine eigenen verdrängten Ohnmachts- und Versagensgefühle rührt. Indem er den Patienten allein verantwortlich spricht, kann er sich seiner Verantwor­tung entziehen.


Andererseits mag jemand, der recht glücklich lebt, das narzisstische Machtgefühl genießen, er selbst habe dieses Glücklichsein geschaffen. Und er sonnt sich vielleicht in dem Gefühl der Überlegenheit über die weniger glücklichen Menschen, die nicht die Kraft hierfür aufbrächten.

Solche überheblichen Glückslinge gehören allerdings öfters zu den Scheinglücklichen, die einfach alle negativen Gefühle und Gedanken - in einem Zwangsoptimismus - wegdrängen. Ihnen fehlt der Mut zur Wahrheit und damit der Mut zur Unglücklichkeit, sie leiden an einer 'Unfähigkeit zu trauern ’. Echte Stärke bedeutet gerade, auch seine Schwäche, auch sein Unglücklichsein zuzulas­sen und zu zeigen.


Natürlich kann man zwar durch vielerlei Aktivitäten zur eigenen Glücklichkeit beitragen. Aber die Basis für Glück oder Unglück wird in frühester Kindheit gelegt, und auch danach spielen un­kontrollierbare Lebensumstände eine entscheidende Rolle. Das Glücklichsein ist weniger eigene Leistung, sondern eben primär 'Glück', Resultat glücklicher Lebenserfahrungen. Und die selbstgefälligen 'Starken' haben vielleicht ganz vergessen, dass mancher ja "mehr Glück als Verstand" besitzt und zuweilen die "dümmsten Bauern die dicksten Kartoffeln" ernten.


Entsprechend lässt sich bei den Weltanschauungen, die das Ich und seine Macht dermaßen herausstellen, Narzissmus als psycholo­gischer Hintergrund vermuten. In manchen Anschauungen reicht die Verleugnung unserer Machtgrenzen bis ins Magische, womög­lich eine direkte Regression (ein Zurückfallen) in den früh­kindlichen Narzissmus.

Man findet das vor allem in Büchern aus der Erfolgspsychologie, in denen der gesunde Menschenverstand - immer noch unter dem Deck­mantel der praktischen Lebenshilfe - oft vollends in Irrationalis­mus umschlägt. So gibt es z.B. in dem Buch mit dem bereits be­zeichnenden Titel "Alles ist erreichbar" von HALL ein Kapitel "Die Allmacht der Gedanken", was nun unmittelbar an die Omnipotenzvorstellungen (Allmachtsvorstellungen) des Kleinkindes ge­mahnt.


Etwas zurückhaltender heißt es in dem bekannten Buch "Die Kraft positiven Denkens" von PEALE:

"Allzuviele sind deprimiert und niedergeschlagen, weil sie mit ihren Alltagsproblemen nicht fertig werden. Sie gehen kämpfend, verkrampft und verbissen oder jammernd und klagend durch ihre Tage, und viele sind beladen mit Ressentiments gegen das 'Pech', welches ihnen das 'Schicksal' immer und immer wieder beschert. Dabei vergessen sie, dass wir auch über Kräfte verfü­gen, durch welche wir diese negativen Einflüsse kontrollieren und überwinden können. Probleme, Sorgen und Schwierigkeiten sind da, um überwunden zu werden! Wir dürfen es nie zulassen, dass sie unser Leben beherrschen. Wir müssen uns kategorisch weigern, ihre Herrschaft anzuerkennen, und sollen geistige po­sitive Kräfte an ihrer Stelle auf uns wirken lassen." (PEALE ohne Jahreszahl, 7)

 

Literatur: modifiziert aus  Ben-A. Bohnke: Machen wir uns selbst unglücklich? (dort Literaturangaben)


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04.07.16  Täter-Theorie und Opfer-Theorie in der Psychologie (2)

Hat nun die Täter-Theorie oder die Opfer-Theorie recht? Die erste Antwort ist: beide - oder beide nicht.

Wut wird erstens sowohl von unserem Ich wie von Umwelt-Faktoren beeinflusst. Es ist unsinnig, den Einfluss der Umwelt ganz zu leugnen. Natürlich gibt es ärgerliche Ereignisse, für die wir nichts können,  die nicht auf unseren Fehlern beruhen. Wenn wir drei Wochen in Urlaub fahren und es regnet die ganzen drei Wochen, dann ist das einfach „verdammt“ ärgerlich. 


Es gibt zwar Vertreter einer extremen, esoterischen Täter-Theorie die behaupten: „Alles, was man erlebt, hat man selbst verursacht. Jeder schafft sich seine Welt selbst.“ Aber das ist schon logisch unmöglich,  hier liegt ein irrationales, letztlich  magisches Denken vor. Außerdem besteht dabei  die Gefahr, dass Menschen für ihre Probleme oder Krankheiten noch moralisch verurteilt und als schuldig dargestellt werden. Ähnliche Vorstellungen gibt oder gab es  in  traditionellen Religionen, wenn man Krankheiten als Strafe Gottes ansah. 


Andererseits bringt es auch nichts, alle eigenen Probleme und allen Ärger auf die Umwelt zu schieben. Wenn man zu schnell fährt, geblitzt wird und sich darüber ärgert, nützt es wenig, die Polizei für den Ärger verantwortlich zu machen. Überhaupt hat das Ich ja einen gewissen Einfluss auf die Umwelt. Wenn ich mich ständig über meinen unfreundlichen Chef ärgere, kann ich  notfalls den Job wechseln (obwohl das natürlich nicht immer einfach ist).   


Damit kommen wir zum zweiten Punkt, der Freiheit des Ich. Auch wenn man einräumt, dass unser Ich selbst Ärgernisse mitverursacht, durch Fehler oder zu hohe Erwartungen: Ist unser Ich nicht bestimmt durch die genetische Anlage, körperliche Prozesse und unsere früheren Erfahrungen, vor allem Kindheitserfahrungen? Kann das Ich also überhaupt etwas für sein Fehlverhalten?


Die Täter-Theorie lehnt diesen Gesichtspunkt ab. Sie sagt, unser Ich ist frei, sich zu entscheiden, wie es will, und sei daher auch total selbst verantwortlich. Esoterische Anhänger der Lehre von der Wiedergeburt (Reinkarnation) behaupten sogar: Jemand hat sich seine Eltern selbst ausgesucht bzw. durch seine Taten in früheren Leben (Karma) herangezogen. Er soll daher auch für schlimme Kindheitserfahrungen die Verantwortung tragen.  


Dagegen sagt die Opfer-Theorie: Unser Ich wird von verschiedenen Faktoren geprägt. Wer z. B. eine schreckliche Kindheit erlebt hat, wer von seinen Eltern unterrückt wurde, der ärgert sich automatisch, er kann nicht anders. Schon gar nicht ist jemand für seine Gene verantwortlich.  


Hier ist auch der Faktor des Schicksal zu nennen. Für die Täter-Theorie gibt es kein Schicksal und keinen Zufall. „Glück“ hat nur der Tüchtige. Aber kann es nicht ein schweres Schicksal geben, das einem Menschen einen Schicksalsschlag nach dem anderen zumutet? Schon die griechische Tragödie beschäftigt sich mit dem  Schicksal, etwa dem Sisyphos, der verdammt war, einen schweren Stein auf einen Berg zu rollen, von wo er immer wieder herunterrollte. Auch im Buch Hiob des alten Testamentes wird dieses Thema aufgegriffen, Hiob wird von den „Hiobsbotschaften“ (Unglücksbotschaften) heimgesucht. Und in harmloser Weise mag jemand ein Pechvogel sein, ein Unglücksrabe, dem immer wieder Ärgerliches  zustößt. Umgekehrt lehrt das Sprichwort: Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln. Soll heißen, wenn jemand ein Glückspilz ist, dann beweist das keinesfalls besondere Fähigkeiten.  


Auch bezüglich der Freiheit des Ich sind die extreme Täter- wie Opfer-Theorie falsch. Selbstverständlich ist unser Ich nicht völlig frei in seinen Wünschen und Entscheidungen und Handlungen. Es bedeutet eine narzisstische Selbstüberschätzung, geradezu einen Größenwahn, das anzunehmen. Andererseits ist es auch falsch, unser Ich nur als ein Produkt aus Anlage und Umwelt zu sehen und jegliche Willens- bzw. Handlungsfreiheit zu verneinen. Sondern wir sollten uns schon einen Handlungsfreiraum und damit auch eine gewisse Verantwortlichkeit zusprechen. (Das gilt allerdings nicht für kleine Kinder oder für geistig schwer erkrankte Menschen.)  


Insofern ist eine Ganzheits-­Theorie angemessen, die beide Seiten berücksichtigt.  

-          Wut wie überhaupt negative Gefühle sind  sowohl von unserer Umwelt als auch von unserem Ich bestimmt.

-          Und unser Ich ist einerseits für seine Handlungen und Entscheidungen verantwortlich, andererseits wird unser Ich von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die es größtenteils nicht steuern kann.

 

Diese Abhängigkeiten sind auch bei der Praxis zu berücksichtigen. Die Täter-Theorie wirft der Opfer-Theorie vor, sie verführe zur Passivität, da Menschen sich als Opfer sehen und nichts gegen Ärger unternehmen würden. Aber das ist nicht zwangsläufig. Auch wenn man sich als Opfer von Ärgernissen sieht, kann man doch versuchen, diese Ärgernisse soweit möglich auszuräumen. Umgekehrt kann die Täter-Theorie zu einem überzogenen Aktivismus führen, als ob man allen Ärger selbst überwinden könnte.



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02.07.16  Täter-Theorie und Opfer-Theorie in der Psychologie (1)

ICH ärgere mich über den Regen. – DER REGEN ärgert mich.

Merken Sie den Unterschied zwischen diesen beiden Aussagen? Auf den er­sten Blick scheinen sie zwar dasselbe auszudrücken.

-          Aber im ersten Fall bin ich der Handelnde, gewissermaßen der "Täter".

-           Im zweiten Fall handelt etwas anderes, der Regen. Ich bin sein "Opfer".

Einmal bin ich aktiv, das andere Mal passiv - wie das auch sehr schön die gleichnamigen grammatischen Kategorien be­zeichnen.

  

Anstelle des Regens kann man natürlich alles Mögliche einsetzen: Das defekte Auto ärgert mich, die fallenden Aktienkurse ärgern mich, der unfreundliche Nachbar ärgert mich, du ärgerst mich, sogar die ganze Welt ärgert mich.      Was stimmt denn nun? Mache ich meine Wut gewisserma­ßen selbst? Oder wird sie von einer anderen Person oder über­haupt etwas anderem hervorgebracht? Sicherlich, die Wut entsteht in mir, insofern bin ich ihr "Vater". Aber dies wäre als Gesamtantwort doch zu simpel. Entscheidend bleibt: Wird man zornig aus Gründen, die in einem selbst liegen, oder auf­grund äußerer Ursachen? Noch einmal anders: Wir hatten ge­sehen, dass man wütend wird, wenn (bestimmte) Bedürfnisse und Erwartungen nicht erfüllt werden, weil sie eben mit der Realität nicht übereinstimmen. Was ist aber falsch? Mein Wunsch - oder die Welt?  


Es gibt hier zwei verschiedene Auffassungen. Ich habe sie folgendermaßen benannt:

  • Täter-Theorie
  • Opfer-Theorie.

 

Nach der Täter-Theorie bewirke ich selbst meinen Zorn, nach der Opfer­-Theorie tut das vor allem die Umwelt. Diese beiden Theorien gehen allerdings weit über das Phänomen Zorn hinaus. Nach der Täter-Theorie liegt es insgesamt an mir, ob ich zufrieden oder unzufrieden, ja sogar ob ich körperlich gesund oder krank bin. Nach der Opfer-Theorie liegt es vor allem an der Umwelt, ob ich glücklich oder unglücklich, bei guter Gesundheit oder kränkelnd  bin. Zunächst zur Täter-Theorie:


1) TÄTER-THEORIE

 

Für die gilt: Jeder ist seines Ärgers Schmied, so wie jeder seines Glückes Schmied ist.

Ich bin der „Täter“.  Es liegt an mir selbst, an meinem Ich, wenn ich mich ärgere, grolle und schmolle. Es ist meine Verantwortung - in doppelter Hinsicht:

-          Ich habe Fehler gemacht, durch negatives Denken oder negatives Handeln die Ärgernisse verursacht, über die ich mich zu Recht är­gere. Z. B. durch Unvorsichtigkeit, Nachlässigkeit, Bequem­lichkeit. Durch unfreundliches, arrogantes, provozierendes Verhalten. Oder durch Pflege von Pessimismus und Negativismus, die dann zu Misserfolgen führten. Die Fehlermöglichkeiten sind unbegrenzt ...

-          Ich habe zu anspruchsvolle Wünsche, Riesenerwartungen, die gar nicht erfüllt werden können. Ich will alles, und das sofort - aber Wunder dauern etwas länger. Oder ich interpretiere ein ganz harmloses Geschehen als großes Ärgernis: Die Mücke an der Wand wird für mich zum Elefanten. Hier mein Zorn unberechtigt, es besteht gar kein echtes Ärgernis. Aber nach Auffassung der Ich-Theorie suchen viele Menschen (und sei es unterbewusst) gerade Ärger, wollen sich aufregen.

 

Nach der Täter-Theorie gilt also: Ich ärgere mich (selbst). Und damit letztlich auch: Ich ärgere mich über mich (selbst), als den eigentlichen - direkten oder indirekten - Verursacher meiner Wut - was mir allerdings nicht bewusst sein muss.

 

2) OPFER-THEORIE

 

Die zweite Auffassung sagt das Umgekehrte: Wenn einer  zornig ist, dann hat ihn etwas anderes – Fremdes –  erzürnt. Er ist „Opfer“ der Umstände, die ihn zornig machten bzw. Opfer seines Zorns, wieder in doppelter Sicht:

-          Es ist die Umwelt, das schlechte Wetter, das kaputte Fernsehen, der unfreundliche Chef usw. usw., die jemand ärgerlich stimmen. Er reagiert nur notgedrungen auf eine Störung, eine Provokation oder einen Stress. Zwar hat er vielleicht auch selbst Fehler gemacht, aber unter dem Einfluss seiner negativen Kindheit oder ungünstiger Erbanlagen. Es ist nicht seine Verantwortung.

-          Seine Wünsche sowie sein Ärger über deren Nichterfüllung sind berechtigt und nicht maßlos. Die Welt oder die Gesellschaft oder bestimmte Verhältnisse sind eben oft frustrierend.


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